Sonntag ist Büchertag: Eine biographische und politische Auseinandersetzung mit der neoliberalen Konterrevolution und dem Versagen der Linken von Didier Eribon,
vorgestellt von Robert Krotzer
„Die Politiker sind alle gleich. Ob links oder rechts, die Rechnung zahlen immer dieselben“, so oder so ähnlich klang die Anklage der französischen ArbeiterInnenklasse Anfang der 1980er-Jahre, als die vermeintliche Linksregierung von François Mitterrand unter Beteiligung der Kommunistischen Partei (PCF) Sozialkürzungen und Privatisierungen durchführte. Und so empfanden auch die Eltern des französischen Soziologen Didier Eribon, die bis dahin als ArbeiterInnen stolz auf ihre Klasse waren, rechte oder gar rechtsextreme Politiker als Feinde des Proletariats ansahen und aufrechte AnhängerInnen der französischen KP und ihrer Gewerkschaft, der CGT, waren. Und doch eignet sich die Familiengeschichte nur bedingt als Stoff für ein proletarisches Heldenepos, sondern spiegelt die große Zerrüttung der europäischen ArbeiterInnenmilieus im Kleinen wider: Soziale Not und Verzweiflung, Alkoholismus und familiäre Gewalt, Abstiegsängste und Alltagsrassismen, Minderwertigkeitsgefühle und der Verlust vertrauter Verhältnisse durch den neoliberalen Gesellschaftsumbau.
Schon 1848 formulierte Karl Marx, dass jeder halben Revolution eine ganze Konterrevolution folge. Umso schlimmer verhält es sich mit dem offenen Verrat einer (idealistisch gewendeten) Linken an der ArbeiterInnenklasse, die damit den Boden bereitet hat für die heutigen Höhenflüge des ‚Front National‘ in Frankreich. Wie es dazu kommen konnte, beschreibt Didier Eribon in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“, eine ebenso biographische wie politische Auseinandersetzung mit der neoliberalen Konterrevolution und dem Versagen der Linken. Als sozial aufsteigender, homosexueller und mit dem Trotzkismus sympathisierender Student entflieht Eribon seinem proletarischen Familienumfeld, das er als rückwärtsgewandt erlebt – ohne dabei aber jemals wirklich in der französischen Intelligenzija anzukommen, gegenüber der er seine Klassenherkunft zu verbergen versucht, und die er zugleich für ihre Verachtung gegenüber den Unterklassen hasst.
Nach dem Tod des Vaters kehrt er nach vielen Jahren in die nordfranzösische Industriestadt Reims zurück und arbeitet in langen Gesprächen mit seiner Mutter nicht nur die Geschichte seiner Familie, sondern auch seiner Klasse auf. Dabei beschreibt er die ökonomischen, sozialen und politischen Umbrüche, die dazu führten, dass sich klassenbewusste ArbeiterInnenmilieus erst von der Politik abwendeten, um schließlich in der heimlichen Stimmabgabe für den rechtsextremen ‚Front National‘ einen Akt „sozialer Notwehr“ zu sehen: „Mit der Wahl der Kommunisten versicherte man sich stolz seiner Klassenidentität, man stellte diese Klassenidentität durch die politische Unterstützungsgeste für die ‚Arbeiterpartei‘ gewissermaßen erst richtig her. Mit der Wahl des Front National verteidigte man hingegen still und heimlich, was von dieser Identität noch geblieben war, welche die Machtpolitiker der institutionellen Linken […] ignorierten oder sogar verachteten.“ (Eribon)
Eribon weist dabei aber die Verfechter der sogenannten „Totalitarismusthese“ scharf in die Schranken, die auf eine Gleichsetzung von links und rechts abzielen. Stattdessen kritisiert er die neokonservative und neoliberale Hegemonie, der sich auch breite Teile der politischen Linken unterworfen haben und die damit ihren Zweck als konsequente Interessensvertretung der Unterklassen aufgegeben haben – und folglich von diesen auch nicht mehr gebraucht und gewählt werden.
„Rückkehr nach Reims“ kann ein Anstoß sein, linke Politik wieder als Klassenpolitik zu verstehen – also ausgehend von der Artikulation der sozialen Interessen der ArbeiterInnenklasse ein neues, inkludierendes Wir-Gefühl von unten zu entwickeln und davon ausgehend für eine progressive Veränderung der Gesellschaft zu kämpfen. Die bisherigen Antworten der „Linken“ – nämlich wahlweise an der Seite des liberalen Bürgertums mahnend den Zeigefinger gegen die „ProletInnen“ zu erheben oder aber unter Aufgabe der eigenen Werte anbiedernd mit den (rechten) Wölfen zu heulen – führen schnurstracks an den Nullpunkt gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit. Es braucht also neue, alte Antworten – und Eribon liefert dafür brauchbare Anregungen mittels einer soziologischen Studie, die man kaum aus der Hand legen will, weil sie spannend wie ein Roman geschrieben ist.
PS: Eine Kurzfassung des Buches hat der Autor für die „Blätter für Deutsche und Internationale Politik“ verfasst, die online unter folgendem Link aufgerufen werden kann: blaetter.de
Fotos: Robert Krotzer (fb), Titelbild: Kathedrale von Reims (Ludovic Péron; Lizenz: CC BY-SA 3.0)
Sonntag ist Büchertag
Bisher:
- „Kinder der Tage“ (Eduardo Galeano)
- „Familie Salzmann“ (Erich Hackl)
- „Deutsche Demokratische Rechnung. Eine Liebeserzählung“ (Dietmar Dath)
- Über Kurt Tucholsky
- „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ (Richard David Precht)
- „Der Aufstand des Gewissens“ (Jean Ziegler)
- „Superhenne Hanna“ (Felix Mitterer)
- „Die Diktatur des Kapitals“ (Hannes Hofbauer)
- „Die schützende Hand“ (Wolfgang Schorlau)
- „Hitler war kein Betriebsunfall“ (Emil Carlebach)
- „Heldenplatz“ (Thomas Bernhard)
- „Zwölfeläuten“ (Heinz R. Unger)
- „MARX“ – Graphic Novel (Corinne Maier, Anne Simon)
- „Gefährliche Bürger“ (Christoph Giesa und Liane Bednarz)
- „Ändere die Welt. Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ (Jean Ziegler)
- „Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee“ (Dietmar Dath & Barbara Kirchner)
- Die Viertel der Reichen (Louis Aragon)
- „Wie Italien an die Räuber fiel“ (Gerhard Feldbauer)
- „berlin. bleierne stadt“ (Jason Lutes)
- „Das war Österreich“ (Robert Menasse)
- „Narr“ von Schilddorfer & Weiss
- „Fußball. Eine Kulturgeschichte“ (Klaus Zeyringer)
- „Reisen in das Land der Kriege“ (Kurt Köpruner)
- „The magic Pen – Der Zauberstift“ (Kathrin Steinbacher)