Wenig beachtet von der internationalen Öffentlichkeit, ist in Spanien eine Entwicklung im Gange, die als beunruhigend für eine Demokratie bezeichnet werden kann. Das „Gesetz zum Schutz der Bürger“ pulverisiert die Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Von Bernardo Jairo Gomez Garcia / Neue Debatte
Im Juli 2015 trat in Spanien das „Gesetz zum Schutz der Bürger“ in Kraft, das nicht von ungefähr im Volksmund als „Knebelgesetz“ oder „Maulkorb-Gesetz“ (span.: Ley Mordaza) bezeichnet wird.
Auf den ersten flüchtigen Blick ist es ein sinnvolles Gesetz, weil es viele Artikel enthält, die tatsächlich zum Schutz der Bürger beitragen. So regelt es unter anderem das Tragen und den Besitz von Waffen oder befasst sich mit dem Handel illegaler Drogen, verbietet die Benutzung gefährlicher Feuerwerkskörper bei Sportveranstaltungen und vieles mehr.
Der Teufel steckt im Detail. Das Gesetz beinhaltet mehrere Artikel, deren Auslegungen es erlauben, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Spanier massiv einzuschränken oder außer Kraft zu setzen. Alle Formen von Protest oder Kritik können kriminalisiert werden. Das betrifft nicht nur Privatpersonen, sondern auch Künstler und Journalisten.
Der Fall Axier Lopez
Der erste Reporter, der mit einer Strafe belegt wurde, war Axier Lopez, der Aufnahmen von der Verhaftung einer baskischen Aktivistin machte und diese auf seinem Twitter-Account veröffentlichte.
Lopez erhielt dafür im März letzten Jahres von den Behörden einen Zahlungsbefehl über 601 Euro. Knapp ein Jahr später wurde die Strafe nach einer Klage annulliert.
Laut der spanischen Sektion von Reporter ohne Grenzen gab es in den ersten sieben Monaten nach in Kraft treten des Gesetzes 40.000 Sanktionen wegen Verstoß gegen das „Knebelgesetz“.
6200 Sanktionen wurden wegen „Respektlosigkeit gegenüber den Sicherheitsorganen“ erlassen und 3700 wegen „Ungehorsam und Widerstand gegen die Staatsgewalt.“ Die Höhe der möglichen Geldstrafen bewegt sich zwischen 100 und 600.000 Euro.
Essen einer Pizza als verbotene Versammlung
Welche grotesken Vorwürfe das Knebelgesetz hervorbringt, zeigt ein Fall aus der autonomen Region Andalusien. Im südspanischen Lucena wurden vier junge Menschen bestraft, weil sie gemeinsam auf einem Platz Pizza aßen.
Die Polizei legte die Schlemmerei als nicht angemeldete Versammlung aus, da sich laut Gesetz nicht mehr als zwei Personen auf öffentlichen Plätzen unangemeldet versammeln dürfen.
Es wurden auch Personen bestraft, die spontan protestierten, wenn die Polizei Zwangsräumungen durchführte und somit teilweise ganze Familien auf der Straße landeten.
Die EU hatte Spanien wegen der Zwangsräumungen bereits 2013 ermahnt, da diese Praxis laut Urteil des Europäischen Gerichtshofs illegal sei und somit gegen geltendes EU-Recht verstößt. Geschehen ist in diese Richtung bis heute nichts. Protestierende werden allerdings bestraft.
Kritik an der Krone als Akt des Terrors
Einer der jüngsten Fälle, in denen das Gesetz zum Schutz der Bürger auch bis in die letzten Winkel greift und die Meinungsfreiheit in den sozialen Netzwerke außer Kraft setzt, ist das Verfahren gegen den Sänger César Strawberry.
Er hatte sich in sechs Tweets ironisch über den antifaschistischen Widerstand GRAPO und über die baskische Terrororganisation ETA im Zusammenhang mit dem Tod des Franco-Stellvertreters Admiral Carrero Blanco geäußert.
Das oberste Gericht Spaniens vertrat die Auffassung, der Künstler verherrliche den Terrorismus und verurteilte ihn im Januar 2017 zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung. Zusätzlich belegte es César Strawberry mit sechseinhalb Jahren Berufsverbot.
Ein Artikel im Gesetz zum Schutz der Bürger erregt in diesen Tagen besonders die Gemüter der Spanier. Er befasst sich mit der Kritik an der Krone. Der Artikel kann so ausgelegt werden, dass Kritik an der Krone als terroristischer Akt angesehen und mit Gefängnis bestraft werden kann.
Der Rapper Valtonyc wurde im Februar zu 3,5 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in einem seiner Lieder die Königsfamilie verunglimpft und den Terrorismus verherrlicht haben soll. Valtonyc nahm Bezug auf den Fall Noós, über den auch die Neue Debatte kürzlich berichtete, und verglich das Königshaus mit Mafiosi.
Seilschaften und die Trümmer von Berlin
Dass dieses unsägliche Gesetz durchgeboxt wurde, haben die Spanier nicht nur der rechten Volkspartei Partido Popular und der kleinen ebenfalls rechts angesiedelten Regionalpartei UPN (Unión del Pueblo Navarro/Vereinigung des navarresischen Volkes) zu verdanken, sondern auch der Stimmenthaltung der PSOE (Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens).
Trotz der nach dem Tod Francisco Francos eingeleiteten Demokratisierung, die am 12. Juni 1985 mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft einen Höhepunkt erlebte, ist der Faschismus in Spanien nie verschwunden.
Hierfür spricht nicht nur der Umstand, dass der Gründer der AP (Alianza Popular/Volksallianz) Manuel Fraga Iribarne, Innenminister unter Franco war. Dessen Gesinnung wurde über Parteigrenzen hinaus gepflegt. Außerdem überdauerten alte Seilschaften aus der faschistischen Ära.
Ohnehin wird Vergangenheitsbewältigung in Spanien so gut wie nicht betrieben. Im Gegenteil: Plätze und Straßen erhalten teilweise Namen zurück, die sie während der Diktatur hatten oder neue, die mit dem faschistischen Regime in Verbindung stehen.
So wurde zum Beispiel in Alicante der Platz der Freiheit in Platz der Blauen Division umbenannt. Die Blaue Division (Anm.: span. División Azul) kämpfte im 2. Weltkrieg an der Seite der deutschen Wehrmacht von 1941 bis zum Oktober 1943 im Russlandfeldzug. Erst dann wurde die Einheit offiziell aufgelöst. Allerdings nahmen auch danach spanische Freiwillige auf deutscher Seite weiter am Krieg teil. Die Reste der „Spanischen Legion“ kämpften im Frühjahr 1945 in den Trümmern von Berlin gegen die Rote Armee.
Auch die PSOE hat die Aufarbeitung der Geschichte nie als wesentliche Herausforderung verstanden. Der erste sozialistische Ministerpräsident Spaniens, Felipe González versuchte, die faschistische Vergangenheit zu begraben. González betonte in einer Rede 1986:
„Der Bürgerkrieg ist kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn er für die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Episode in ihrem Leben darstellt. Der Krieg ist endgültig Geschichte, ist nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der Toleranz basiert.“
Totalitarismus durch die Hintertür
Während die europäische Staatengemeinschaft besorgt auf die Entwicklung in der Türkei schaut, zieht auf der Iberischen Halbinsel langsam der Totalitarismus ein.
Das Gesetz zum Schutz der Bürger katapultiert Land und Leute zurück in die Zeit der Franco Diktatur, denn die Polizei hat in manchen Lebensbereichen so viel Handlungsfreiheit wie seit dem Tod des Despoten nicht mehr.
Nahezu alle politischen Parteien Spaniens lehnten dieses Gesetz ab. Selbst die UNO und Amnesty International drängten die spanische Regierung, das Gesetz entweder zurückzunehmen oder zu überarbeiten. Beides ist bisher nicht geschehen.
Nein, es sieht nicht gut aus für die Demokratie in Spanien: Die Bürgerrechte werden gerade pulverisiert.
Bernardo Jairo Gomez Garcia wurde im spanischen Granada geboren und lebt seit 1967 in Deutschland. Sein Vater stammt aus Kolumbien, seine Mutter aus Spanien. Sein Beitrag erschien zuerst auf Neue Debatte, Kooperationspartner von Unsere Zeitung.
Fotos: Aufnahme von César Strawberry von Rojoynegro Tv (Lizenz: CC BY 3.0); Titelfoto: Demonstration gegen das „Gag Law“ in Madrid am 20. Dezember 2014 von Carlos Delgado (CC BY-SA 4.0).