Was soll die hysterische 90er-Nostalgie in der aktuellen Popkultur? Ein Kommentar von Anna Muhr

Ja, auch ich habe eine Weile in den 90er-Jahren gelebt. Es war da echt ganz OK. Für meine Generation war es vielleicht sogar größtenteils sehr super. Weil: wir waren die Coolsten. Wir waren nämlich Teenager und da gehört man immer zu den Coolsten. Wir trugen Skaterkleidung – sogar die von uns, die sich keine zwei Minuten auf einem Skateboard hätten halten können, wäre es um Leben und Tod gegangen (ich spreche aus Erfahrung) –, von unseren Schultern hingen die Eastpak-Rucksäcke und an manchen Gürteln die Pager. Auf einmal durften wir Dinge machen, bei denen die Eltern nicht mehr dabei sein mussten: das erste Mal Weggehen, die erste Zigarette, der erste Rausch, die ersten Partys mit Flaschendrehen. So viele erste Male. Sicher erinnerungswürdig.

Das gibt uns aber noch lange kein Recht auf ein derart manisch zelebriertes 90er-Jahre-Revival.

Zunächst aus einem sehr einleuchtenden Grund: Andere Menschen waren auch in irgendeinem Jahrzehnt einmal Teenager. Führen die sich so auf? Gab es 40er-Jahre-Fashion in den Regalen von H&M? Hat sich auf einer Party jemals jemand besoffen was von Peter Alexander gewünscht? Ein Remake von „Casablanca“ mit Dwayne „The Rock“ Johnson? NEIN. Gut so.

Was soll also die hysterische 90er-Nostalgie in der aktuellen Popkultur?

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Ich bin immer davon ausgegangen, dass Nostalgie etwas für Leute ist, die viel älter sind als die werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen, viel älter als die Generation Y, sogar älter als meine Eltern. Sie ist was für alle, die sich gerne schmachtend in der „Früher war alles besser“-Suppe suhlen und keinen Tellerrand mehr sehen wollen, weil sie keine Kraft mehr haben. Für die Kunst ist Nostalgie jedenfalls der Tod, zumindest in der Form, in der wir sie gerade erleben. Da wird nicht genau hingeschaut, nicht studiert, analysiert und wohlwollend gesampelt oder weiterentwickelt. Es wird einfach nochmal genau so gemacht wie damals. Vielleicht dreht man bei der Produktion ein paar Regler anders. Vielleicht sind die Kameraeinstellungen jetzt fetziger, die Schnitte schneller. Aber mehr Kreativität braucht es auch nicht.

Vor einigen Tagen landete – als pars pro toto – das neue Album der R&B-Gruppe TLC auf meinem Schreibtisch. Relevante Genre-Vertreter in den 90er-Jahren, keine Frage. Jetzt? – Zwei in die Jahre gekommene Sängerinnen, die in der Hoffnung auf ein bisschen Action auf dem Bankkonto die Songs aufgenommen haben, die sie früher als zu belanglos aussortiert hätten. Natürlich nicht ohne am Ende noch fünf Re-Recordings ihrer größten Hits dranzuhängen. Nur auf der Deluxe-Version vom Album allerdings – der Unterschied der neuen Aufnahmen zum Original ist nicht zu erkennen, kostet aber trotzdem extra. Musikalische Ressourcenverschwendung.

Von den Comeback-Tourneen alter Bravo-Hits-Bands fange ich jetzt gar nicht erst an. Nur soviel: Zu schade sind sich dafür die Wenigsten.

Und warum sollten sie es auch sein? Das Publikum ist ja vorhanden. Wir kaufen die als kulturelle Erinnerungsleistung verkleidete Einfallslosigkeit, vielleicht nicht mehr auf CD oder VHS. Aber wir bezahlen dafür. Notfalls auch mit dem guten Geschmack. Zwischen „Oh wie toll war das damals auf der Skikurs-Disko“ und „Schau mal, SO peinlich waren wir mal!“ tollen wir in der Nostalgie-Hüpfburg herum und finden irgendwann alles super, was damals schon schlecht war.

Ist es Ironie? Bitte lasst es Ironie sein! Kann jemand den Satz „In den 90er-Jahren war alles besser, weil damals gab es wenigstens noch die Kelly Family“ sagen ohne dabei zu lachen?

Der Spaß geht zu weit, finde ich. Es wird zu ernst. Und auch wenn das aus soziologischer Sicht vielleicht nachvollziehbar ist, wie Profil-Journalist Sebastian Hofer unlängst dargelegt hat – gut ist das nicht.

Dass die Welt komplizierter wirkt als früher und es wahrscheinlich sogar ist, macht sie doch auch spannend. Gerade das kann Inspiration für so viel Neues sein. Die ewige Rückschau dagegen ist nur das Kapitulieren vor der Herausforderung, sich was auszudenken. Sie verlangt uns nichts mehr ab. Sie macht uns bequem und träge. Und dafür sind wir echt zu jung.

Titelbild: pixabay.com (public domain)

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