Seit Anbeginn der Zeit wollte der Mensch Herr der Lüfte sein und selbst immer schon fliegen können – doch was ist, wenn man plötzlich wirklich in der Luft schwebt? – Von Oliver Suchanek
Sich aus den Decken im warmen Bett herauszuschälen, unter denen man lieber liegen bleiben möchte und sich den Pflichten zu stellen, raubt eine undefinierbare Menge an Energie aus den eigenen Ressourcentonnen. Von einer Sekunde auf die nächste sind Pläne in theatralischer Geste mit lautem Seufzen in den Müll geworfen, Termine, auf die man sich freute, abgesagt und Werke von harter Arbeit im Endeffekt für die „Katz'“. Ehe man sich versieht, stumpft die eigene Psyche so von Stress und Routine ab, dass irgendwann die Freude seltener wird, wenn nicht schon gänzlich schwindet. Das Gefühl in der Luft zu hängen wird bewusster und schwerer. Mit den Scheuklappen am Kopf stürzt man sich jeden Tag in die triste Regelmäßigkeit mit nur einem Ziel vor Augen: Erfolge zu erschaffen. Wie oft wünschen wir uns so ein außergewöhnliches Ereignis, welches so mitreißt und zu einer Erkenntnis führt, wie wir unsere Situation zum Besseren wenden könnten? Darauf zu warten, dass etwas Großes passiert, damit dem Leben mehr Wert gegeben wird, ist schon lange ein häufiges Bestreben von uns Menschen. Gerade wenn wir uns danach sehnen, haben wir oft einen Mangel in unserem Inneren, welches nur aufgefüllt werden soll – dies kann nach hinten losgehen; schnell kann es sich in eine Sucht verwandeln, den gewünschten Adrenalinschub zu bekommen, denn gleich wird schon wieder das nächste große Erlebnis geplant.
Bei Glück und Zufriedenheit geht es nicht nur darum, enorme Ambitionen und große Errungenschaften zu erzielen; es geht um die kleinen Dinge, die den stressigen, auch tristen Alltag zum Leuchten bringen und die eigenen Ressourcen genug aufladen um weiterzumachen. An den darauffolgenden Erfolgen haftet dadurch mehr Bedeutung. Die kleinen Dinge machen das Leben einfacher, wird gerne gesagt, aber schauen wir uns das genauer an: das Leben ist und bleibt hart, und sich dem Alltag auf ein Neues entgegenzustellen verlangt sehr viel ab und durchaus kommt der Punkt, wo man sich denkt, dass es auf Dauer schwer werden kann und die simpelsten Aktivitäten wie Aufstehen oder überhaupt den Tag zu starten schon beinahe unmöglich werden. In der heutigen Zeit erwarten wir alle mehr vom Leben und wenn es einmal dazu kommen sollte, dass wir innehalten und reflektieren, dann fragt man sich oft, ob es überhaupt wert ist, den Weg zu den Erfolgen auf sich zu nehmen.
Genau an solchen Tagen können kleine Gesten von anderen oder Zufälle, die im großen Ausmaß zuerst als irrelevant erscheinen, einem die Motivation verleihen die Routine fortzusetzen – der Unterschied zu vorher ist: der Alltag wirkt für eine Sekunde, oder auch Stunden, nicht mehr so trüb.
Die kleinen Dinge helfen mehr oder weniger „nur“ das eigene Leben bewusster zu genießen und geben einer Person kleine Geschichten zum Weitererzählen, wodurch ein weiterer Mitmensch aus dessen Routine für eine Sekunde herausgerissen und zum Lächeln gebracht wird. Legt man einmal die Scheuklappen ab, dann erkennt man wirklich, dass der halbherzige Rat „Schau auf die kleinen Dinge“ nicht völlig fern von Sinnhaftigkeit ist. Diese Momente zu erkennen ist ebenfalls nicht ganz frei von Arbeit; zu tief ist in uns dieser Gedankenzweig verankert, dass man keine Zeit verschwenden darf, und sich bewusst zu entscheiden, Zeit für etwas anderes, fern von der Routine, zu nehmen kann anfänglich auch einiges an Überwindung kosten.
Es bleibt jedem Individuum selbst überlassen, zu definieren, was die kleinen Dinge überhaupt sind; wenn man von der Kälte nachhause kommt und fühlt, wie sich die Hände erwärmen; wenn man etwas Lustiges zu sich selbst sagt und es zufällig jemand hört und lacht; wenn man das Leuchten in den Augen anderer sieht, weil diese eine Erklärung in Mathematik endlich verstanden haben; wenn man eine Flasche Wein der Lieblingssorte aufmacht – oder auch ganz was anderes. Etwas haben all diese Dinge gemeinsam: die Bedeutung dahinter, die einem keiner wegnehmen kann. Der Stress der Verantwortung wird sich vielleicht nie, oder noch nicht ändern, aber am Ende des Tages mit mehr Freude durch die kleinen Dinge nach Hause zu gehen, macht die Hürde, das sich Leben nennt, ein wenig lebenswerter.
Titelbild: „Die kleinen Dinge“ von Oliver Suchanek