“Unter Türkis-Blau wäre das unwahrscheinlich gewesen”

Maximilian Belschner hat drei Stunden damit verbracht, das Regierungsprogramm von Türkis-Grün zu überfliegen. Hier sein erstes Fazit:

Das Kapitel zum Klimaschutz ist wirklich ambitioniert. Österreich soll 10 Jahre vor der EU Vorgabe klimaneutral werden. Ab 2030 nur noch Strom von Erneuerbaren Energien produzieren, und gleichzeitig eine klare, ablehnende Haltung zur Kernenergie beibehalten. Photovoltaik soll massiv gefördert werden, ebenso die Windenergie. Wie genau das aussehen wird, wird man sehen.

Gleichzeitig soll schon ab nächstem Jahr keine neue Ölheizung mehr verbaut werden und die alten werden ab 2035 schrittweise umgetauscht und verboten. Weniger schnell soll dies bei Gasheizungen funktionieren.

Auf europäische Ebene will man sich für Klimazölle einsetzen. Ganz wichtig ist auch der Klimacheck. Neue und bereits bestehende Bundesgesetze und -vereinbarungen sollen durch diesen Check auf ihre Klimatauglichkeit überprüft werden. Das wäre de facto das, was die Extinction Rebellion und Fridays for Future mit ihrem Klimanotstand gefordert haben.

Verkehr und Infrastruktur sind 2 Kapitel, die ebenfalls positiv wegkommen. So wird das Tempo 140 wieder abgeschafft. Die Straßenverkehrsordnung wird überarbeitet und nachgesehen, ob Radfahrer und Fußgänger darin benachteiligt werden. In ländlichen Gebieten sollen Park&Ride bzw Bike&Ride ausgebaut werden. Doch das Herzstück ist das 1-2-3 Ticket, das österreichweit gelten soll. 1 Euro für 1 Bundesland, 2 Euro für 2 Bundesländer und 3 Euro für ganz Österreich. Pro Tag. Dazu soll es eine nationale Buchungsplattform für Öffi Tickets geben und die Angebote zusammengeführt werden. Das wird vieles einfacher machen.

Bei der ökosozialen Steuerreform gibt es Nachholbedarf. Positiv anzumerken ist die Ökologisierung der Nova, des Dienstwagenprivilegs und der Pendlerpauschale. Eine CO2 Steuer soll allerdings erst frühestens 2022 kommen. Förderungen für fossile Energieträger sollen nicht auf nationaler, sondern nur auf europäischer Ebene überprüft werden. Dabei könnte man dabei viel Geld sparen.

Speaking off. Der Klimaschutz soll finanziert werden durch „Green Bonds“, grüne Staatsanleihen und steuerliche Begünstigungen bei klimafreundlichen Investitionen. Zusätzlichen sollen institutionelle Fonds, die der Bund managed, ihre Investitionen ökologisieren. „De-fund fossil fuels“ ist das Schlagwort. Auch das wird schon seit langem von Umweltorganisationen gefordert, die das Klima- und Umweltkapitel in dem Programm loben.

Ein weiteres Kapitel, welches Lob verdient hat ist das zu Transparenz, Parteienfinanzierung und Informationsfreiheit. Da wird der Rechnungshof mehr Befugnisse bekommen, und politische Spenden sollen erschwert und begrenzt werden.

Steuerliche Begünstigungen soll es außerdem bei der Reparatur von Produkten sowie dem Verkauf von reparierten Produkten geben. Das wäre ein erster Schritt in Richtung Kreislaufwirtschaft.

Bei der Handelspolitik sind ein paar Punkte dabei, die wirklich atemberaubend sind für eine Regierung mit einer konservativen Partei als Chef. So wird einerseits das Handelsabkommen mit Südamerika (Mercosur) klar abgelehnt. Damit würde man u.a. Brasilien und seinen Bauern, die den Regenwald abfackeln, einen erleichterten Zugang zu Europa verwehren. Außerdem sollen bei künftigen Handelsabkommen der EU europäische Produktionsstandards in der Lebensmittelindustrie festgeschrieben werden. Und die europäischen Bedingungen in der Lebensmittelindustrie sind was Hygiene, Naturschutz und Tierwohl angeht mit die strengsten der Welt. Eine solch klare Positionierung sucht man bspw. im Koalitionsvertrag deutscher Parteien vergeblich.

Dünn werden die Kapitel, sobald es um Soziales, Gesundheit, Pensionen oder Pflege geht. Da hat man viel weggelassen oder in Task-Forces verschoben. Ein weiterer Makel ist ein völliges Fehlen Erbschafts- oder Vermögenssteuer (Finanztransaktionssteuer soll auf europäischer Ebene kommen, und zwar anders als das Modell vom deutschen Vizekanzler Olaf Scholz es vorsieht). Die wäre dringend nötig. Denn das Programm besteht aus einem großen Wunschkonzert aus relativ teuren Investitionen und Steuersenkungen ohne die nötige Finanzierung. Das riecht nach der Streichung von sozialen Leistungen, will man nicht gleichzeitig Schulden aufnehmen.

Beim Kapitel Migration ist eindeutig zu sehen, dass diese von den Türkisen geschrieben wurde. Die Maßnahmen, die sich die ÖVP hier wünscht klingen allerdings mehr nach Symbolpolitik, wie z.B. das Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 oder die Bekämpfung des sogenannten „politischen Islam“. Echte Maßnahmen der Integration, wie z.B. die am Arbeitsmarkt oder in der Lehre, werden allerdings stärker gefördert. Unter Türkis-Blau wäre das unwahrscheinlich gewesen.

Alles in allem ist das Programm aber noch sehr vage gehalten, konkrete Maßnahmen sind selten zu finden und man liest mehr von Evaluierungen, Prüfungen und Absichtserklärungen. Das meiste wird hoffentlich noch konkretisiert oder gleich ganz auf die europäische Ebene verschoben. Aber das Programm ist insgesamt ambitionierter, als ich es erwartet hätte. Vor allem beim Kapitel Klima- und Umweltschutz haben sich die Grünen mehr durchgesetzt als die Türkisen. Jetzt müssen sie ihre Absichten nur noch mit Taten einhalten.


Mach dir selbst ein Bild und schreib einen Gastartikel. Das gesamte Regierungsprogramm zum Download. Die Kurzfassung.

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3 Kommentare

  1. Die größte Sorge macht mir das Thema:
    „Medien werden zur Chefsache“.
    „Entscheidende Entscheidung“?

  2. Also die Vorbeugehaft ist KEINE Symbolpolitik? Auch der Krieg gegen Flüchtlinge wird fortgesetzt. Lager für Abzuschiebende werden eingerichtet. Die EU soll Flüchtlinge im Mittelmeer abfangen und zurück deportieren. Und auch sonst ist viel repressives und reaktionäres im Programm zu finden. Da würde ich es in Ruhe schon noch einmal genauer durchlesen! Studierende sollen weniger Gestaltungsmöglichkeit haben, alles Schüler sollen mit EDV an das System gehängt werden. Auch Volksschulkinder sollen genauer überwacht werden. Internet der Dinge und andere Unfug des eskalierenden Digitalkapitalismus sollen gefördert werden. Wirtschaftswachstum und Standortwettbewerb werden zum Maß aller Dinge gemacht. Alle Lebensbereiche noch mehr dem kapitalistischen Verwertungszwang unterworfen. Die paar grünen Tupfer sind eher zur Abfederung des wirklichen Programms da …

    Ein DEMOKRATIE- und MENSCHENRECHTS-Kapitel ist ja erst nicht zu finden.

    Die Entwicklung eines Grundrechtekatalogs wird zwar in Aussicht gestellt, so wie viele potentiell gute Ansätze gibt es weder einen Zeitplan noch einen Finanzplan. Das Finanzministerium bleibt bei der ÖVP die also weiter alles kontrollieren wird.

    Die Sideletters mit dem Postenschacher und Finanzschiebereien werden ja auch nicht veröffentlicht. Wir dürfen schon gespannt sein, was die Grünpartei für ihr Wohlverhalten so alles bekommen wird. Parteibuchwirtschaft ist natürlich ebenso kein Thema wie das Problem der Überreichen …

    Natürlich insgesamt deutlich besser als Schwarzblau, aber für die Grünen dennoch peinlich, all das Reaktionäre in den anderen Bereichen mitzutragen. Sind wir schon so bescheiden geworden, dass wir über Zwischenentspannungen uns freuen?

  3. Bezüglich AMS: Ein Arbeitslosengeld Neu mit mehr Anreizen zur Arbeitsaufnahme ist festgeschrieben und lässt wenig Gutes erwarten, ebenso der der AMS-Algorithmus weiter entwickelt werden soll und der „zweite Arbeitsmarkt“ gesichert werden soll wo dann ältere Langzeitarbeitslose zu Hungerlöhnen dann schwere, gesundheitschädliche Arbeit in der „Green Economy“ (reparieren von Geräten, Mülltrennung usw.) machen müssen. Dass die AMS und Arbeitsagenden vom grünen Sozialministerium zum schwarzen Familienministerium unter der Obhut eine Unternehmensberaterin wandern, gibt auch keinen Anlass zur Kritik? Ebenso dass wir VersicherungszahlerInnen weiter keine Mitsprache haben und ziemlich rechtlos bleiben, wenn wir auf UNSERE Versicherung angewiesen sind, stört die UZ auch nicht? Ihr solltet Euch einmal mehr mit der Realität auseinander setzen!

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