Proletkult: „Ruhe und Ordnung“

Neues Online-Lyrik-Projekt gestartet: PROLETKULT – Literatur aus der ArbeiterInnenbewegung

Auf der Website proletkult.at, die Daniel Jamritsch seit dem Beginn der Corona-Krise ins Leben gerufen hat, erscheint täglich ein neues Gedicht bzw. ein neuer (literarischer) Text aus der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, oft mit Erläuterungen zum Text sowie biographischen Daten zum jeweiligen Autor bzw. zur jeweiligen Autorin. Der Begriff “Proletkult” geht zurück auf die russische Oktoberrevolution und bezeichnet den Versuch, eine Kultur der ArbeiterInnenklasse ohne jeden bourgeoisen Einfluss zu schaffen.

„Gerade in Zeiten wie diesen, wo vieles langsamer (und für viele von uns leider schlechter) läuft, ist Lyrik meiner Meinung nach eine interessante literarische Gattung, um sich mal wieder mit der Geschichte von Klassenkämpfen, Antifaschismus und kultureller Gegenmacht auseinanderzusetzen“, schreibt Daniel Jamritsch dazu in einer Aussendung.

Die Texte sind allesamt gemeinfrei und meist von Feuilletons historischer Zeitungsausgaben entnommen, die Jamritsch im Laufe der letzten Monate gesammelt hat und nun Tag für Tag auf der Seite proletkult.at zur freien Verfügung stellt. Passend zur aktuellen Zeit sogleich ein Gedicht von Theobald Tiger (Kurt Tucholsky):

Ruhe und Ordnung

von Theobald Tiger (ca. 1925)
 

Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
Wenn Mütter den Kindern bloß Milchwasser geben –
Das ist Ordnung!

Wenn Werkleute rufen: “Lasst uns ans Licht!
Wer meine Arbeit stiehlt, muss vors Gericht!”
Das ist Ordnung!

Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
Wenn Dreizehn in einer Stube pennen –
Das ist Ordnung!

Aber wenn Einer ausbricht mit Gebrüll,
Weil er sein Alter sichern will –
Das ist Unordnung!

Wenn Erben von Renten im Schweizer Schnee
Jubeln, und sommers am Comer-See –
Dann herrscht Ruhe!

Wenn Gefahr besteht, dass sich die Dinge wandeln,
Verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
Dann herrscht Unordnung!

Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde zu hören.
Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.

Nur nicht schrein.
Mit der Zeit wird das schon.
Alles bringt Euch die Evolution.
So hats Euer Volksvertreter entdeckt.
Seid Ihr bis dahin alle verreckt?
So wird man auf Euren Gräbern doch lesen:
“Sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen!”

Theobald Tiger (1890, Berlin – 1935, Göteborg) war ein Pseudonym des deutschen Journalisten und Schriftstellers Kurt Tucholsky. Tucholsky zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift “Die Weltbühne” erwies sich Tucholsky auch als einer der profiliertesten Gesellschaftskritiker im deutschsprachigen Raum. Er verstand sich selbst als Demokrat, Sozialist, Pazifist und Antimilitarist.

Titelbild: Praesidium of the national Proletkult organisation elected at the first national conference, September 1918. Sitting from left to right: Fedor Kalinin, Vladimir Faidysh, Pavel Lebedev-Polianskii, Aleksei Samobytnik-Mashirov I. I. Nikitin and Vasili Ignatov. Standing from left to right: Stefan KrivtsovKarl Ozol-Prednek, Anna Dodonova, N. M. Vasilevskii and Vladimir Kirillov (Quelle: wikiwand.com; public domain)

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