Corona und die Schönheit des Selbstverständlichen

In Zeiten von Corona wird viel von dem Begriff der Normalität gesprochen. Florian Maiwald fragt sich in seinem neuen Gastbeitrag: Was ist eigentlich normal? Und warum lieben wir das, was wir als selbstverständlich erachten, umso sehr, wenn es uns abhanden kommt?

Im Hinblick auf die Corona Pandemie wurde in den vergangenen Wochen von dem Begriff der Normalität besonders häufig Gebrauch gemacht. Unter Normalität wird in diesem Zusammenhang insbesondere die Zeit vor Corona bezeichnet. Die Zeit, in der man Dinge tun konnte, welche man gewöhnlich unter dem Begriff der Selbstverständlichkeit subsumieren würde.

Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch noch ein weiteres Phänomen. Oftmals wird der Normalitätsbegriff im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr auf die Zeit ausschließlich vor dem lockdown bezogen, sondern auch auf die Zeit während und nach dem lockdown. Ebenso dynamisch wie die Zahlentwicklung des Virus scheinen auch unsere Einstellungen im Hinblick auf den Normalitätsbegriff zu sein. Was vor einiger Zeit noch völlig normal schien, ist jetzt teilweise undenkbar. Die Undenkbarkeit gewisser Praktiken, welche vorher als normal betrachtet wurden, ist natürlich mehr als gerechtfertigt, da es um das Retten von Menschenleben geht. Es scheint in diesem Kontext dennoch interessant durch welch eine Relativität und Diskontinuität der Normalitätsbegriff an sich gekennzeichnet ist. In diesem Zusammenhang ist es lohnenswert, etwas genauer zu untersuchen, was man unter Normalität im Konkreten versteht. Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff der Normalität das, was Normen entspricht. Als Norm bezeichnet man ein

„[…] Modell, nach dem Handlungen oder Dinge bemessen oder bewertet werden […]. Alles, was den Normen zuwiderläuft, bezeichnet man als >>abnorm<< oder >>normwidrig<< “ (Godin, 2012, 122-113).

Normen sind in diesem Sinne, einfacher ausgedrückt, Regeln, welche in unserem alltäglichen Leben konstitutiv für die Grenzziehungen zwischen dem Selbstverständlichen und dem – zunächst – Unverständlichen sind. Um das Unverständliche selbstverständlich zu machen, bedarf es eines – um die Theorie Thomas S. Kuhns in einem anderen Kontext anzuwenden – Paradigmenwechsels. Ein derartiger Paradigmenwechsel kann auf vielen verschiedenen Ebenen stattfinden und ist untrennbar mit den diskursiven Auseinandersetzungen verbunden, durch welche ein Gesellschaftsbild zu verschiedenen Zeitpunkten, unter verschiedenen kontextuellen Rahmenbedingungen, geprägt wird. Ein derartiger Paradigmenwechsel scheint derzeit ebenfalls stattzufinden. Oder anders formuliert: Wir befinden uns in einem Zustand, in welchem uns altbekannte Normen (welche unser Leben vor der Krise geprägt haben) neu verhandelt werden. Nachdem das ehemals Selbstverständliche (Freunde in Gruppen treffen, grenzenloses Wirtschaftswachstum ohne Rücksicht auf humane und ökologische Verluste, Reisen wohin man möchte etc.) in der derzeitigen Krise unverständlich, d.h. von der Norm abweichend, geworden ist, befinden wir uns nun in einer normlosen Phase. Unter einer normlosen Phase ist im entferntesten Sinne jene zuvor erwähnte Form eines Wechsels der Paradigmen zu verstehen. Wir können jetzt entscheiden, ob wir das ehemals Selbstverständliche weiterhin als selbstverständlich anerkennen wollen, oder ob wir aus dem derzeit Unverständlichen neue Formen des Selbstverständlichen generieren wollen. In einigen Aspekten mag dies mehr als wünschenswert sein. So können wir aus der derzeitigen Krise beispielsweise lernen durch welch enorme Fragilität die menschliche Existenz an sich geprägt ist und dass unser eigener Schutz auf Dauer nur durch den Schutz der Natur gewährleistet werden kann. Andere Dinge, das scheint unbestreitbar, sollten sehr wohl zukünftig wieder als selbstverständlich anerkannt werden: Unsere Nächsten und Freunde unbesorgt zu treffen, eine ausreichende Versorgung mit den ökonomischen Notwendigkeiten und vor allem die Freiheiten, welche unser Leben so lebenswert machen.

Ein weiterer wichtiger Punkt, welcher an dieser Stelle dennoch erwähnt werden sollte, ist, dass der Begriff des Selbstverständlichen (und damit des Normalen) paradoxerweise alles andere als selbstverständlich ist – zumindest wenn man die allgemein, diskursiv anerkannte Definition des Begriffs verwendet. Vielleicht gelangt man zu einem besseren Verständnis dieses Begriffes, wenn man ihn wirklich wortwörtlich nimmt: Das Selbstverständliche und Normale ist das, was einem Selbst verständlich ist – um den unverkennbaren Wert menschlicher Individualität mit ins Spiel zu bringen. Somit finden einige jetzt Gefallen daran, dass man sich nicht mehr die Hände schüttelt (nicht ich persönlich!), was vorher in unseren Kulturkreis dennoch als selbstverständlich galt.

In seinem weltberühmten Roman Die Pest weist Albert Camus ebenfalls darauf hin, wie Menschen sich einerseits nach einem vergangenen Zustand der Normalität zurück sehnen und andererseits einen neuen Zustand der Normalität herbeisehnen:

„Aber Cottard lächelte nicht. Er wollte wissen, ob man annehmen könne, dass die Pest nichts in der Stadt ändern und alles wie vorher weitergehen würde, das heißt, als sei nichts geschehen. Tarrou glaubte, dass die Pest die Stadt verändern werde und nicht verändern werde, dass es natürlich der größte Wunsch unserer Mitbürger sei und sein werde, so zu tun, als habe sich nichts geändert, und dass sich von daher in gewissem Sinn nichts geändert habe, dass man in einem anderen Sinn aber nicht alles vergessen könne[…]“ (Camus, 1998, 316).

Cottards Einstellung findet sich eindeutig bei denjenigen wieder, die alles so haben wollen, wie es vorher war. Mit einem Satz: Zurück zur Normalität. Und das ist nicht nur verständlich, sondern auch mehr als normal (wenn wir schon beim Wort der Normalität sind). Denn das Selbstverständliche hat etwas Erhabenes und Schönes. Es bringt Struktur, Transparenz und (scheinbare) Sicherheit in unser alltägliches Leben. Es vermittelt uns die wohltuende Illusion des Sicheren und Planbaren. Krisen wie die Corona-Pandemie zeigen jedoch auch, dass unsere alltäglichen Sicherheiten und Planbarkeiten auf falschen Hypothesen beruhen können. Das Normale – und damit das Selbstverständliche – waren also so gesehen nie da, sondern immer relativ zu den temporären Rahmenbedingungen, welche unser Großexperiment menschlichen Lebens definieren und eingrenzen.

Derzeit wird viel darüber debattiert, dass wir wieder möglichst schnell zurückkehren müssen zu unseren alltäglichen Gewohnheiten. Andererseits wird argumentiert, dass wir ebendiese Gewohnheiten nicht dauerhaft fortführen können, wenn wir auf Dauer unser Überleben sichern möchten.
Karl Marx hat einst gesagt, dass die Philosophen die Welt lediglich interpretiert haben, es aber darauf ankomme, ebendiese zu verändern. Slavoj Žižek verkehrt diese Aussage in ihr Gegenteil, indem er sagt, dass wir gerade jetzt aufhören sollten mit dem blinden Aktionismus und uns wieder der Theorie und der Interpretation zuwenden sollten (vgl. Žižek, 2018). Der derzeitige normlose Zustand kann hierfür die beste Möglichkeit darstellen. Denn nur durch geeignete Theorien kann eine geeignete Praxis garantiert werden. Eine Praxis in welcher ein gutes und sicheres Leben langfristig als selbstverständlich und schützenswert erachtet werden. Also – wenn die Umstände es zulassen – ab auf die Couch und über eine bessere Welt nachdenken!

Quellen:


Florian Maiwald (27) studiert Philosophie, Englisch und Bildungswissenschaften im Master an der Universität Bonn und betreibt den Philosophie- Blog „Meta-Ebene“.

Titelbild: Gerd Altmann auf Pixabay


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