Kolumne von Andreea Zelinka (Rotes Antiquariat Wien)
Gesprächig und kontaktfreudig blieb ein Graphik-Student aus Leipzig mit seiner Begleitung eine längere Weile im Laden, sie waren zu Besuch in Wien. Begeistert betrachtete er die Max Beckmann Werkverzeichnisse, die gesammelt im Regal standen, und bedauerte, sie sich nicht leisten zu können. Anstatt dessen nahm er sich ein kleines Büchlein mit: „Kunst und Revolte. Das politische Plakat und der Aufstand der französischen Studenten“, von Louis F. Peters, 1968 bei DuMont Aktuell erschienen. Es beinhaltete ein originales DIN A0-Plakat. Der rote Holzschnitt zeigt einen gänzlich bandagierten Kopf, mit hypnotischen Augen, dessen Mund mit Stecknadeln verschlossen ist. Darüber ist auf Französisch zu lesen: „une jeunesse que l’avenir inquiète trop souvent“ („Eine Jugend, die sich über die Zukunft zu oft Sorgen machen musste“).
Es handelte sich um einen Reprint des Plakats, das im Atelier Populaire der École des Beaux-Arts in Paris entstanden ist. Als ein Zentrum der Student*innenbewegung bestimmte es maßgeblich Erscheinungsbild und Wahrnehmung der Ereignisse von 1968 mit. Das Plakat war dafür Mittel zum Zweck geworden, da damit rasch auf aktuelle Geschehnisse reagiert, es einfach vervielfältigt und es leicht öffentlich angebracht werden konnte. Über Nacht wurden Auflagen von 2000 Stück gedruckt, die sich im Juni 1968 bis zu einer Million Exemplaren steigerten. Damit war es den Künstler*innen möglich Grenzen der traditionellen Kunstproduktion zu überschreiten. Diese Absicht spiegelte sich auch im Produktionsprozess wider: Entwürfe wurden in Versammlungen diskutiert und basisdemokratisch über ihre Umsetzung abgestimmt. Die Drucke wurden nicht signiert und bis heute sind die Urheber*innen anonym. Die Plakate sind Ausdruck ihrer Kritik an einer regierungsnahen Presse und fehlenden institutionellen Räumen für politische Partizipation. An Hochschulen gab es 1968 keine Studierendenvertretungen (diese wurden nun erkämpft) und das allgemeine Wahlrecht galt erst ab 21 Jahren. Protagonistin der Ikonographie dieses Aufstands war neben den Medien, die Polizei. Gerade die CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité), eine kasernierte Bereitschaftspolizei, war dafür bekannt gerne mit voller Härte gegen Demonstrierende vorzugehen.
Von den Straßen und Demonstrationen fanden die satirischen und anprangernden Plakate rasch ihren Weg aus der Öffentlichkeit in die Küchen und Wohnzimmer. Was Bürgerliche und Liberale als “Gesinnungskunst” bezeichneten, ist eine Ästhetisierung des politischen Protests, die noch heute aktuell ist. Künstler*innen, die auf soziale Missstände hinweisen, machen sichtbar und sind so Teil sozialen Wandels. Ihre Bilder bewegen sich zwischen Kommunikation und Ästhetik, informieren einerseits über Geschehnisse abseits des Mainstreams und herrschenden Narrativs, und drücken andererseits das Bewusstsein und den politischen Gegenentwurf von Unterdrückten in Wort und Bild aus. Beim Kampf um Definitionsmacht sind sie ihre ästhetische Notwendigkeit. Aber das ästhetische Empfinden einer Generation drückt sich nicht nur über die Plakate und Wandzeitungen in den Straßen der Städte aus, sondern über die Körper, die auf den Straßen ihre Forderungen geltend machen. Es drückt sich aus durch die Repräsentant*innen, die sich vielleicht aus den Kämpfen ergeben und in die Institutionen gewählt werden. Es drückt sich dadurch aus, wie wir Daheim, auf der Arbeit und in unserer Freizeit miteinander leben. Was als temporärer Ausdruck beginnt, der auf den Straßen seinen unmittelbaren Nutzen zeigt, wird zu einer bestimmten Bildsprache und Formwelt (bestimmter Zugehörigkeiten), die weit über Revolte und Revolution hinaus bestehen, wirken und sich entwickeln.
Titelbild: Andreea Zelinka
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