In armen Stadtteilen Londons wurde 2011 als Pilotprojekt eine erste urbane Energiekooperative gegründet. Die lokale Stromerzeugung durch Solarzellen erwies sich als voller Erfolg und ist heute ein Vorbild für weitere solcher Projekte in der britischen Hauptstadt. Vierter Teil der siebenteiligen Serie über selbstverwaltete Betriebe in Europa von Christian Kaserer
London zählt wohl zu den reichsten Städten Europas. Hier ist ein großer Teil der Kapitalakkumulation aus britischen als auch europäischen Finanzgeschäften versammelt und obschon dies, aus klassisch marktradikaler Sicht, ja eigentlich gerade paradiesische Zustände sein müssten, grassiert die Armut zusehends.
Hinter der Fassade von Big Ben, dem Tower of London, dem Buckingham Palast und all den anderen herausgeputzten Sehenswürdigkeiten, verbirgt sich das Ergebnis einer für Westeuropa geradezu beispiellosen Privatisierungspolitik, die unzählige Menschen nicht nur „abgehängt“ hat, wie man es lapidar nennt, sondern immer tiefer in die Armut stürzte.
Angespornt durch die kalte Kriegerin Margaret Thatcher versuchte man nämlich seit den 1980er Jahren so gut wie alle Aspekte des öffentlichen Lebens – seien es nun Krankenhäuser oder öffentliche Verkehrsmittel – teilweise oder sogar ganz zu privatisieren und der „unsichtbaren Hand des Marktes“ zu überlassen, welche sich jedoch viel mehr wie eine Faust anfühlte, die eine Frucht bis auf den letzten Tropfen auspresst, als ein unmerklich und vernünftig steuerndes Element.
Für allzuviele Londoner reicht es heute nicht einmal mehr für das Nötigste und damit sind nicht nur die in manchen Gebieten der Stadt geradezu erschreckend vielen Obdachlosen gemeint, sondern Menschen, die 40 Stunden in der Woche arbeiten und trotzdem an der Armutsschwelle kratzen.
Wen wundert das auch? Die Lebenshaltungskosten sind enorm. Die Mieten oftmals in unermesslichen Höhen, die Heizungskosten ebenso und selbst Nahrungsmittel übersteigen die Preise in Festlandeuropa teils deutlich. Laut seriösen Beobachtern sollen zwischen 2011 und 2016 die Mieten für Privatwohnungen um 20 Prozent, für staatlich geförderte Sozialwohnungen sogar um 30 Prozent gestiegen sein. Die Löhne indes können nicht einmal annähernd mithalten. Das trifft nicht nur Erwachsene, sondern vor allem auch Kinder, von denen inzwischen über 700.000 unterhalb des offiziellen Existenzminimums zu leben haben.
Zu den kostspieligsten nötigen Punkten des alltäglichen Lebens zählt sicher die Energieversorgung. London verbrauchte 2015 etwa 13 Prozent der gesamten Energieproduktion Großbritanniens, produzierte selbst allerdings lediglich zwei Prozent. Eine Diskrepanz, welche Energieversorger gerne dazu nutzen, die Preise in astronomische Höhen zu treiben. Immer mehr Londoner also können sich ihre Grundversorgung mit Energie inzwischen nicht mehr leisten. Schreckliche Zustände in einem der Kernländer des globalen Kapitalismus.
Während die britische Politik hier geradezu ohnmächtig zusieht, haben sich unzählige Bürger der Stadt zusammengeschlossen, um dem Problem gemeinsam etwas entgegenzusetzen. Ähnlich wie in Griechenland hat die enorme Zunahme von Armut dafür gesorgt, dass mehr und mehr selbstverwaltete Projekte gegründet wurden und diese hatten teils ungewöhnliche Ideen.
Im Süden Londons, einem Gebiet in dem Armut stärker verbreitet ist als im Norden, wurde im Stadtteil Brixton im Jahr 2011 Großbritanniens erste innerstädtische Energiekooperative gegründet. Häuserblocks sollen sich gemäß dieser Idee durch Solarenergie zumindest teilweise selbständig und kostengünstig mit Strom versorgen. Gerade Brixton nämlich ist ein Stadtteil, in dem Reich und Arm in vielen Fällen lediglich von einer Straße getrennt wohnen. Ein passender Ort also, für Londons erste Energiekooperative, genannt Brixton Energy. Ausgesucht hatte man sich für dieses Pionierprojekt einen Block mit Sozialwohnungen; das sogenannte Elmore House. Eine der Bewohnerinnen dies Blocks ist Lilly, welche mich in ihre Räumlichkeiten bringt, einen Tee zubereitet und von Brixton Energy zu erzählen beginnt:
„Als man 2011 zu uns kam und meinte, man will bei uns ein neues Projekt ausprobieren, das uns helfen soll mit selbstverwalteter Energieerzeugung unsere Stromkosten zu senken, dachte ich mir, die veralbern uns doch. Das klingt doch auch einfach komisch. Energiekooperative. Und dann noch bei uns, einem Haus mit Sozialwohnungen. Das passt doch mehr in die hippen Bezirke, wo Reiche wohnen. Aber wir hatten nichts zu verlieren und haben ja gesagt.“
Für die Rentnerin afrikanischer Herkunft sind die Solarzellen am Dach ein Segen. Strom und Heizungskosten fraßen ihr einen Gutteil der staatlichen Rente auf und nicht selten kam es vor, dass sie im Winter die Heizung nur in einem Raum etwas aufgedreht hatte, während der Rest der Wohnung kälter und kälter wurde. Nicht nur ihr, erzählt sie mir, ging es im Haus so. Heute sind davon in Großbritannien etwa zweieinhalb Millionen Haushalte betroffen. Eine schockierend hohe Zahl für ein so vermeintlich reiches Land. Doch nun, dank der Solarzellen, sparen zumindest die Menschen in Lillys Haus alle etwas Geld vom billigeren Strom und können dieses etwa für den Winter einsetzen, um nicht mehr frieren zu müssen.
Das not-for-profit Sozialunternehmen Repowering hatte unter dem Motto »Power to, for and by the people!« Brixton Energy gemeinsam mit den Bewohnern des Elmore House und externen Investoren als Genossenschaft gegründet. Ab einer Summe von 50 Pfund war man Teil der Genossenschaft und hatte, unabhängig von der weiteren Höhe der eingezahlten Summe, eine Stimme um mitzuentscheiden, wie sich das Projekt entwickeln sollte. Brixton Energy will nämlich nicht nur ein Haus mit Energie versorgen, sondern ein weitläufigeres soziales Projekt sein.
„Beim Bau der Solarzellen haben hier Menschen aus der Gegend mitgearbeitet, die sich in dem Bereich auskannten, aber gerade zum Beispiel keinen Job hatten. Das war uns sehr wichtig, da helfen zu können. Und jetzt ist es so, dass junge Menschen zu uns kommen können und hier ein bezahltes Praktikum machen im technischen Bereich. Für viele Kids aus der Gegend ist das eine tolle Möglichkeit, ihren Lebenslauf und so die Jobchancen aufzubessern. Das ist gerade für junge Menschen mit Migrationshintergrund enorm wichtig“, erzählt Lilly.
Aber nicht nur technische Praktika bietet die Genossenschaft an, sondern ebenso im Bereich der Projektplanung, Event-Management, Marketing und noch vieles mehr. Für viele Jugendliche in Brixton eine gute Chance, erste wichtige Arbeitserfahrung zu sammeln. Doch auch finanziell ist die Genossenschaft durchaus einträglich. Der erwirtschaftete Gewinn, gewiss nicht übertrieben hoch, wird zu Teilen an die Genossenschaftsmitglieder ausgezahlt, zu Teilen in einen Fonds investiert. Angepasst an die ursprüngliche Einlage – 50 Pfund aufwärts – werden jährlich Zinsen bis zu vier Prozent an die Genossenschaftsmitglieder ausgeschüttet. Nicht viel, aber für Menschen, die es sich nicht leisten können im Winter zu heizen, eben doch kein Tropfen auf dem heißen Stein.
„Für mich ist es wie ein kleines Wunder. Ich war anfangs sehr skeptisch, aber wir haben es versucht und es hat sich gelohnt. Wir sind dadurch alle noch viel stärker zusammengewachsen und haben nun keine so große Angst mehr vor unserer Zukunft und der Zukunft unserer Kinder und Enkel“, resümiert Lilly ihre Erfahrungen, bevor sie mich verabschiedet.
Das Elmore House stellte sich als ein so großer Erfolg heraus, dass durch Repowering weitere Energiegenossenschaften in Brixton gegründet wurden. Jedoch auch darüber hinaus und so werden in London mit Stand Anfang 2020 jährlich 447,358 Kilowattstunden Strom durch solche Projekte erzeugt und über hundert Tonnen CO2 eingespart. Der entsprechend angewachsene Fonds will weitere Energiegenossenschaften über die ganze Stadt hinweg, doch vor allem in ärmeren Gebieten, ermöglichen. London soll in Zukunft mehr als nur zwei Prozent der Energie Großbritanniens erzeugen und das vermehrt selbstverwaltet und gemeinwohlorientiert.
Dieser Artikel ist eine kurze Zusammenfassung des ersten Kapitels des Buches coop – Selbstverwaltete Betriebe und ihre Auswirkungen auf Arbeit und Gesellschaft von Christian Kaserer, erschienen am 27. Juli 2020 im Linzer guernica Verlag. ISBN 978-3-9504594-8-7, 9,90 Euro, 120 Seiten.
Titelbild: RepoweringLondon (fb)
Serie zu selbstverwaltete Betriebe in Europa
- Teil 1: Der Kampf um die Seife in Thessaloniki
- Teil 2: Selbstverwaltete Suchtbekämpfung in Bozen
- Teil 3: Genossenschaften – Arbeiterkontrolle oder Businessmodell?
GEWINNSPIEL “7 x coop”
Unsere Zeitung verlost gemeinsam mit dem guernica Verlag zu jedem Teil der Serie jeweils 1 Exemplar des Buches „coop – Selbstverwaltete Betriebe und ihre Auswirkungen auf Arbeit und Gesellschaft“. Schreibe einfach ein E-Mail mit dem Betreff „coop“ und Deiner Anschrift an gewinnspiel@unsere-zeitung.at und mit etwas Glück findest du das Buch bald in Deinem Postkasten.
Teilnahmeschluss ist der 15.09.2020. Die glücklichen Gewinner werden anschließend per Mail verständigt.
Termin-Aviso:
Dienstag, 15. September, 19 Uhr: Buchpräsentation im Cardjin-Haus in Linz (Kapuzinerstraße 49) in Kooperation mit dem guernica Verlag, weltumspannend arbeiten, u.a.