Fast ein Drittel aller Wiener*innen darf am 11. Oktober nicht an den Landtags- und Gemeinderatswahlen teilnehmen, weil ihm hierfür die österreichische Staatsbürgerschaft als Voraussetzung des Wahlrechts fehlt. Jene Menschen, die großteils seit Jahren, oft seit Jahrzehnten in Wien leben, sind Gesetzen und politischen Entscheidungen unterworfen, an deren Weiterentwicklung sie keinerlei Mitbestimmungsrechte haben. Welchen Themen wären ihnen wichtig, dürften sie mitreden?

Von Tamara Ehs

Tamara Ehs: Kolumnistin für „Unsere Zeitung – DIE DEMOKRATISCHE.“ (Foto: privat)

Gemeinsam mit Monika Mokre führe ich (finanziert von der Stadt Wien im Rahmen der Förderung zum „Digitalen Humanismus“) am Institut für Kulturwissenschaften (IKT) der ÖAW ein Forschungsprojekt durch, das jenen Fragen nachgeht: Welche Themen wären für nicht-österreichische Staatsbürger*innen wahlentscheidend? Welche Aspekte würden sie in die Wiener Politik einbringen, müssten wahlwerbende Parteien auf ihre Stimme achten? Um dies herauszufinden, befragten wir mittels Fragebogen, in Telefonaten sowie in einer Gruppendiskussion Menschen, die jenes Drittel der Nichtwahlberechtigten in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, Einkommensschicht und Staatsbürgerschaft möglichst gut repräsentierten. Mithilfe der Zahlen von Statistik Austria und Magistratsabteilung 23 erhielten wir ein genaues Bild der nicht-österreichischen Wiener*innen: Diese sind durchschnittlich (!) jünger, mehr Männer als Frauen und befinden sich aufgrund niedriger formaler Bildungsabschlüsse oft auch in niedrigeren Einkommensschichten. Letzteres bedingt nicht selten, dass das für den Erwerb der Staatsbürgerschaft erforderliche Mindesteinkommen nicht erreicht und dadurch das Wahlrecht nicht erlangt wird.

Unser Projekt verfolgt das Ziel, einerseits auf das Problem des Wahlrechtsausschlusses aufmerksam zu machen und andererseits jenen eine Stimme zu geben, die ansonsten kaum gehört werden. Wien wächst und damit auch das Demokratiedefizit. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich der Prozentsatz der Wiener*innen, die nicht wahlberechtigt sind, verdoppelt. Rund ein Drittel der Bevölkerung auszuschließen, führt nicht nur zu einem Legitimationsdefizit des Landtags/Gemeinderats, sondern auch zu einer ungleichen Repräsentation. So sind junge Wiener*innen, Arbeiter*innen, jene der unteren Einkommensklasse und unter anderem Bewohner*innen Favoritens (10. Bezirk) oder von Rudolfsheim-Fünfhaus (15. Bezirk) nicht entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung im Wahlergebnis vertreten. Hinzu kommt, dass Wählen auch ein sozialer Akt ist und es wissenschaftlich belegte Ansteckungseffekte des (Nicht-)Wählens gibt: In einer Studie, die ich zurzeit mit Martina Zandonella von SORA durchführe, sehen wir, dass in Stadtteilen mit niedrigen sozioökonomischen Ressourcen auch die Wahlbeteiligung niedriger ist. Dies betrifft insbesondere Zählsprengel mit einem hohen Anteil an türkischen und ex-jugoslawischen Staatsbürger*innen. Demgegenüber ist es in Stadtteilen mit hohen sozioökonomischen Ressourcen (wie zum Beispiel Hietzing) für die Wahlbeteiligung egal, wie viele Menschen wahlberechtigt sind.

In einem ersten Schritt erstellte das Projektteam einen Themenkatalog, der die Teilnehmer*innen unserer Befragung mit jenen Politikfeldern bekannt machen sollte, für die die Stadt Wien zuständig ist. Diese Informationsbroschüre verfolgte den Zweck, alle Befragten auf einen annähernd gleichen Wissensstand über die rechtlichen Zuständigkeiten und aktuell diskutierten Themen der Wiener Stadtpolitik zu bringen. Daraufhin entwickelten wir einen offenen Fragekatalog, der jeden Politikbereich mit der Frage abschloss: „Was wollen Sie uns noch zum Themenbereich xy in Wien sagen? Gibt es Bereiche, die Ihrer Meinung nach besonders wichtig sind oder zu wenig beachtet werden?“ Hierbei boten wir den Teilnehmer*innen auch an, den Fragebogen in einer anderen Sprache als Deutsch zu beantworten oder telefonisch, falls sie sich schriftlich nur unzureichend ausdrücken konnten. Als die Coronakrise Ende Mai wieder kleinere Zusammenkünfte erlaubte, organisierten wir mit ausgesuchten Teilnehmer*innen auch noch eine Gruppendiskussion.

Nach einer Redaktionssitzung lagen uns schließlich 25 Fragen von Nichtwahlberechtigten an die Wiener Parteien vor. Unser nächster Schritt ist, daraus eine eigene „Wahlkabine“ zu erstellen. In einer neuen Anwendung der bekannten politischen Orientierungshilfe wahlkabine.at werden die wahlwerbenden Parteien nicht wie üblich mit Fragen konfrontiert, die Politikwissenschafter*innen und Journalist*innen erstellten, sondern die Nichtwahlberechtigten erhalten Gehör. Der Fragenkatalog ist mittlerweile von allen wahlwerbenden Parteien beantwortet und wird ebenfalls auf wahlkabine.at online gestellt, sodass Interessierte nachvollziehen können, wie die Parteien auf die Anliegen der Nichtwahlberechtigten reagieren würden.

Tamara Ehs ist Wissensarbeiterin für Demokratie und politische Bildung, derzeit in Forschungskooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Außerdem berät sie Städte und Gemeinden in Fragen partizipativer Demokratie. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des österreichischen Parlaments. Soeben ist ihr neuestes Buch „Krisendemokratie“ (Wien: Mandelbaum Verlag 2020) erschienen, das aus der Coronakrise sieben Lektionen für die österreichische Demokratie zieht.


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Titelbild: Ulrike Leone auf Pixabay

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