Portugiesische Verhältnisse – Das portugiesische Schulsystem wurde von der konservativen und abgewählten Ex-Regierung kaputtgespart. Der angerichtete Schaden für Lehkräfte, Jugend und Studenten des Landes ist enorm. In Lissabon war wiedereinmal Remidemi auf der „Straße der Freiheit”, der Avenida da Liberdade.
Aus Lisboa berichtet Martin Wachter
Samstag 16. Juni um 8 Uhr morgens wartet eine Gruppe von 25 Menschen auf den Bus in Lagos an der Algarve. Eine Demonstrationsfahrt ins 300 Kilometer entfernte Lisboa steht auf den „Lehrplan”. In der Nachbarstadt Portimao füllt sich der 60-Sitzer Überlandbus bis auf den letzten Platz. Nach zwei Stunden Fahrt ist der Parkplatz an der Autobahn Raststation bereits mit zehn Bussen aus der Algarve besetzt. Wenn so viele Menschen in der etwas mehr als 300.000 PortugiesInnen zählenden südlichsten Provinz zur Demo unterwegs sind, wird es sich in der Hauptstadt einigermaßen abspielen.
Der Tag war heiß und die Stimmung gut. Mit einem Kostenbeitrag von fünf Euro statteten die OrganisatorInnen von der Gewerkschaft CGTP IN die Protestierenden mit Strohhüten aus. Bei 30 Grad und blauem wolkenlosen Himmel genau die richtige Kopfbedeckung. Die bunten Spruchbänder an der Hutkrempe symbolisieren unmissverständlich das Motto der Demo:
„Wir verteidigen die Öffentliche Schule”
Die VeranstalterInnen von der kommunistisch orientierten größten Gewerkschaftsorganisaton des Landes freuten sich besonders über die 80.000 TeilnehmerInnen an der Manifestation. Ende Mai waren an zehn Tagen ebenfalls zigtausende Werktätige und Aktivisten
des CGTP IN an der „Woche des Kampfes” beteiligt. Damals stand die Einführung der 35-Stunden-Woche für alle im Vordergrund der Handlungen. Inzwischen wurde in großen Teilen des öffentlichen Dienstes die 35-Stunden-Woche wieder eingeführt.
Ein buntes Fahnenmeer prägte den Platz Marques de Pombal im Lissaboner Zentrum – und trotz der Bildungsmisere ausgelassene und fröhliche Menschen, junge wie alte.
Die Fakten im lousitanischen Schul- und Bildungssystem: Seit Mitte Juni 2016 haben die Schulen und Bildungseinrichtungen Ferien. Erst Mitte September soll der Betrieb wieder offiziell anlaufen. In manchen Fällen zieht sich der Schulbeginn bis Anfang Oktober oder noch später. Warum ist das so: Zum einen weil die Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank den Portugiesen für eine „Handvoll Euros” einen radikalen Sparkurs aufgebrummt hat. Zigtausende Lehrerinnen und Lehrer verloren ihre Arbeit. Die verbliebenen Lehrkräfte mussten Lohn- und Gehaltskürzungen bis zu 30 Prozent hinnehmen. Zum Anderen erhielten die Schulen mehr Autonomie besonders in finanziellen Angelegenheiten. Die Schulleitungen mussten mit einem reduzierten Finanzbudget vorlieb nehmen. Mit dem neuen „hire-und-fire-Arbeitsrecht” seit 2012 war es aus mit Pragmatisierung und wohlerworbenen Rechten für die Belegschaft im öffentlichen Schulwesen. Jeder fünfte Lehrer, jede Fünfte Lehrerin wurde gekündigt. Sie verloren ihren Job und ihre Existenzgrundlage. Bezahlt wurde das Lehrpersonal nur noch für gearbeitete Monate. Länger Ferien weniger Geld lautete die Gleichung.
Manche von Arbeitslosigkeit bedrohten Lehrkräfte wurden vom Norden des Landes über 600 bis 800 Kilometer Entfernung an die Algarve zur Ausübung ihres Berufes verschickt oder umgekehrt. Dieser Affenzirkus brachte viele BildungsarbeiterInnen auf die Palme. Entnervt verließ gut ausgebildetes Fachpersonal das Land, bevorzugt Richtung Frankreich und England. Seit 2016 muß sich die neue sozialdemokratische namensmäßige sozialistische Regierung unterstützt von Kommunisten, Grünen und Linksblock mit „LehrerInnenmangel herumschlagen.
Portugal ist ein Staat des Rechts und nicht der Rechten
Besonders wütend macht die Menschen im Lande und die zehntausenden DemonstrantInnen eine „Reform”, der im Oktober 2015 abgewählten rechten Regierung der konservativen Volksparteilichen PSD von Pedro Passos Coelho und der noch rechteren CDS PP um Paolo Portas. Die privaten Eliteschulen im Norden und um Lisboa erhielten um 25 Prozent mehr Finanzmittel durch die Schulautonomie.
Laut Gesetz zahlt der Staat durchschnittlich für eine Schülerin einen Schüler in öffentlichen Schulen 3.890 Euro. Für Privatschulen beträgt diese Summe 4.522 pro Jahr. Es gibt 79 Eliteschulen mit 45.000 eingeschriebenen Mädchen und Buben. Diese Ungerechtigkeit erzürnt das normale Volk. Zahlreiche Spruchbänder und Plakate forderten das Ende dieser ungleichen Behandlung. Warum soll ein Kind aus der reichen und einflußstarken Oberschicht um 632 Euro mehr wert sein – Warum erhalten diese Privilegierten eine bessere pädagogische Ausbildung durch mehr Lehrkräften in Klassenzimmer mit weniger SchülerInnen, lautet die simple Frage der empörten DemonstrantInnen.
„Seit der Nelkenrevolution ist Portugal ein Staat des Rechts und nicht der Rechten”, schallte es immer wieder tausendfach lautstark durch die Baumkronen-Allee, der sechspurigen 1,1 Kilometer langen Avenida de Liberdade.
Vier Stunden später endete der Tag weniger spektakulär. Bei der Fußball-EM musste sich Portugal gegen Österreich mit einem torlosen 0:0 und einem vergebenen Elfer des Nationalhelden CR7 begnügen.
Martin Wachter ist Herausgeber des UHUDLA, die älteste und rebellischste Straßenzeitung Österreichs. Er lebt in Portugal.
Fotos: Martin Wachter (UHUDLA)