In seinem Buch „LONDON. Unterwegs in einer umkämpften Metropole“ berichtet der Schweizer Journalist Peter Stäuber auf Rundgängen durch die britische Hauptstadt von den Opfern eines immer teureren Wohnungsmarkts. Eine seiner Stationen ist das ehemalige Musik-Mekka und Alternativviertel Camden. – Sonntag ist Büchertag
Im Prinzip können die Mieten unbegrenzt wachsen. Hier haben New Yorker gegenüber Londonern einen entscheidenden Vorteil, wie wir seit „Friends“ wissen: In der letzten Folge der Sitcom, als die sechs Freunde ihre letzten Minuten im Apartment in Manhattan verbringen, erzählt Chandler seinem Kind in nostalgischem Ton, dass die Wohnung über viele Jahre mit Liebe und Lachen erfüllt war – und, noch wichtiger, dass sie dank der Mietpreisbindung ein Schnäppchen gewesen sei. Das ist einer der Gründe, weshalb es in London keine Schnäppchen gibt: Die Mietpreisbindung ist schon lange aufgegeben worden. Mit dem Housing Act von 1980 – in dem das berüchtigte „Right to Buy“ eingeführt wurde – schränkte Margaret Thatcher die Rechte der Mieter zunächst ein, und acht Jahre später schaffte sie die Mietpreisbindung ganz ab. Seither kann ein Landlord die Miete jedes Jahr um so viel hinaufsetzen, wie es ihr oder ihm passt.
Jedes Quartier erzählt eine ähnliche Geschichte, aber im London Borough of Camden war der Preisanstieg in den letzten Jahren besonders stark zu spüren. Der Bezirk umfasst ein großes Gebiet von Inner London: Camden reicht von Lincolns Inn Fields im Süden, wo Lord Russell 1683 wegen Hochverrats tollpatschig enthauptet wurde (der Scharfrichter musste vier Mal zuschlagen), bis zu den sterblichen Überresten von Karl Marx, die im nördlichen Highgate Cemetery begraben sind. Besucher kennen vor allem das Vergnügungsviertel und Musik-Mekka Camden Town. Fast müsste man sagen: das ehemalige Musik-Mekka, denn auch dieses Quartier hat sich stark verändert, seit Amy Winehouse im Dublin Castle auftrat und gelegentlich selbst hinter der Bar stand. Aber vor zehn Jahren war Camden Town noch in vollem Schwung – und als Aoife O’Sullivan zum ersten Mal hierher kam, war sie hingerissen.
O’Sullivan (ihr Vorname Aoife wird als „Ifa“ ausgesprochen) war damals 20 Jahre alt und studierte in ihrer Heimat Irland Literatur und Geografie. Als sie ihre Sommerferien mit ihrer Mutter in Sur- rey verbrachte, reiste sie so oft sie konnte mit dem Zug nach Camden. „I absolutely loved it“, sagt sie. So gut gefiel es ihr, dass sie sich entschied, mit ihrem Bruder hierherzuziehen. „Wir mieteten ein Zimmer über einem Pub, ich bekam einen Job in einer anderen Bar, und das wars!“, erzählt O’Sullivan. „Das war damals möglich, weil die Mieten viel billiger waren. Das Zimmer kostete 100 Pfund pro Woche, die ich mit meinem Bruder teilte.“ Mit dem Mindestlohn, den sie verdiente, konnte sie ihr Zimmer problemlos bezahlen, und viele ihrer Freundinnen und Freunde taten das Gleiche. „Das Quartier war nicht heruntergekommen oder gefährlich, aber die Gentrifizierung spürte man damals noch weit weniger. Camden war in jenen Jahren viel interessanter und lebhafter. In den Pubs gab es fast jeden Abend Live-Musik, es war das Zentrum der alternativen Kultur.“
Mittlerweile arbeitet O’Sullivan als Primarlehrerin und wohnt in Kentish Town, 20 Minuten Fußmarsch nördlich von Camden Town. Das nächstgelegene Pub, The Bull and Gate, war früher ein Musikvenue. Coldplay spielte hier 1999 ein Set, das der Band den ersten Plattenvertrag einbrachte. Heute ist es ein Gastropub, allgegenwärtiges Symptom der Gentrifizierung. O’Sullivan wohnt in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung im Erdgeschoß, gleich neben einer kleinen Textilreinigung. Die 31-Jährige mit schwarz umrandeter Brille sitzt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer, neben ihr an der Wand hängt ein Plakat mit den bekanntesten irischen Schriftstellern. Sie kämpft gerade mit einer Erkältung und schlürft eifrig Tee. „Als ich diese Wohnung vor einigen Jahren bezog, betrug die Miete monatlich 1.056 Pfund (das sind umgerechnet 1.350 Euro). Letztes Jahr stieg sie auf 1.172.“ In den letzten Monaten vor Ablauf ihres Mietvertrags hatte sie schlaflose Nächte. O’Sullivan befürchtete, dass die Miete so stark steigen könnte, dass sie sie nicht mehr bezahlen würde können; sie sah sich bereits in den Schaufenstern der Immobilienmakler nach einer neuen Behausung um – und war schockiert. „Da gibt es Ein-Zimmer-Apartments, die schnell mal 300 Pfund pro Woche kosten. Es ist schlicht unmöglich, dass sich eine Lehrerin, ein Krankenpfleger oder ein Polizist dies leisten kann.“ O’Sullivan verdient etwa 23.000 Pfund im Jahr – weniger als der Londoner Durchschnittslohn von 28.000 Pfund.
Endlich, ein paar Wochen vor Jahresende, konnte sie aufatmen: Ihr Landlord setzte den neuen Mietzins auf 1.213 Pfund pro Monat fest – das vermag O’Sullivan gerade noch zu bezahlen. Aber viel mehr liegt nicht drin, zumal Gemeindesteuer, Wasser, Elektrizität und Gas noch dazu kommen. Zudem arbeitet sie nicht in Camden, sondern pendelt jeden Tag in den zwölf Kilometer entfernten Stadtteil Wanstead. „Das kostet mich jeden Monat 160 Pfund.“ Wenn die Preise weiter steigen, wird sie aus Camden wegziehen müssen. O’Sullivan suchte Rat bei der Bezirksverwaltung, vergeblich. „Sie waren verständnisvoll, aber sie konnten mir nicht helfen. Jemand von der Verwaltung sagte mir, dem Mietpreis sind nach oben keine Grenzen gesetzt: the sky is the limit.“
Auch Robert Taylor von der Camden Private Tenants’ Association, die sich für die Rechte der Privatmieter einsetzt, war verständnisvoll aber machtlos. Auf dem Weg zu Taylors Büro kommt man an Fiddler’s Elbow vorbei, einem jener traditionsreichen Camden-Venues, die der Gentrifizierung bislang getrotzt haben. „Heute glaubt man es kaum, aber in den 1970er-Jahren war Camden ein billiges Wohnquartier“, sagt Taylor. „Ich kenne Musiker, die seit 40 oder 50 Jahren hier leben und noch heute etwa 80 Pfund pro Woche für eine Zweizimmerwohnung bezahlen – mitten in Camden Town!“ Das ist der letzte Überrest der Mietpreisbindung, die seit 1988 nur noch für eine verschwindend kleine Zahl von Wohnungen gilt. 2013 betrug die durchschnittliche Miete für eine Zweiraumwohnung im Bezirk Camden 440 Pfund, pro Woche.
Robert Taylor hat mit Dutzenden Fällen wie jenem von Aoife O’Sullivan zu tun – Anwohner, die sich fragen, ob sie sich Camden weiterhin leisten können. Der wichtigste Grund für den Anstieg der Obdachlosigkeit in England ist die Tatsache, dass Privatmieter aus ihren Häusern geschmissen werden und keine neue Behausung finden. „Der Wohnungsmarkt in London ist ein perfekter Sturm. Es ist ein komplett dysfunktionaler Markt“, sagt Taylor. „Wenn wir uns die Privatmieter als Konsumenten vorstellen, dann wird ihnen ein extrem teures Produkt von schlechter Qualität verkauft, und sie haben keinerlei Möglichkeit, sich ein besseres auszusuchen.“
Dieser Text stammt aus:
Peter Stäuber
LONDON. Unterwegs in einer umkämpften Metropole
ISBN 978-3-85371-408-9,
br., 208 Seiten,
17,90 Euro
E-Book:
ISBN 978-3-85371-836-0,
14,99 Euro
Promedia Verlag
Diese Buchvorstellung erschien zuerst bei unserem Kooperationspartner „die seiten – Zeitschrift des Vereins für kulturelle Information“, Nr. 3/Herbst 2016
Fotoquelle: „die seiten“ / Promedia Verlag
Sonntag ist Büchertag
Bisher:
- „Kinder der Tage“ (Eduardo Galeano)
- „Familie Salzmann“ (Erich Hackl)
- „Deutsche Demokratische Rechnung. Eine Liebeserzählung“ (Dietmar Dath)
- Über Kurt Tucholsky
- „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ (Richard David Precht)
- „Der Aufstand des Gewissens“ (Jean Ziegler)
- „Superhenne Hanna“ (Felix Mitterer)
- „Die Diktatur des Kapitals“ (Hannes Hofbauer)
- „Die schützende Hand“ (Wolfgang Schorlau)
- „Hitler war kein Betriebsunfall“ (Emil Carlebach)
- „Heldenplatz“ (Thomas Bernhard)
- „Zwölfeläuten“ (Heinz R. Unger)
- „MARX“ – Graphic Novel (Corinne Maier, Anne Simon)
- „Gefährliche Bürger“ (Christoph Giesa und Liane Bednarz)
- „Ändere die Welt. Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ (Jean Ziegler)
- „Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee“ (Dietmar Dath & Barbara Kirchner)
- Die Viertel der Reichen (Louis Aragon)
- „Wie Italien an die Räuber fiel“ (Gerhard Feldbauer)
- „berlin. bleierne stadt“ (Jason Lutes)
- „Das war Österreich“ (Robert Menasse)
- „Narr“ von Schilddorfer & Weiss
- „Fußball. Eine Kulturgeschichte“ (Klaus Zeyringer)
- „Reisen in das Land der Kriege“ (Kurt Köpruner)
- „The magic Pen – Der Zauberstift“ (Kathrin Steinbacher)
- „Rückkehr nach Reims“ (Didier Eribon)
- ISLAMISCHER STAAT & Co. (Werner Ruf)
- „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers (Stefan Zweig)
- Freud und das Politische (Moshe Zuckermann)