Happy birthday, Verfassung!

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„Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz)“ heißt die Jubilarin mit vollem Namen. „Verfassung“ ist ihr Rufname. Zum 100. Geburtstag widmet das Jüdische Museum ihr und dem „Verfassungsmacher“ Hans Kelsen eine Ausstellung. 

von Tamara Ehs

Tamara Ehs: Kolumnistin für „Unsere Zeitung – DIE DEMOKRATISCHE.“ (Foto: privat)

Als die Verfassung vor über 100 Jahren ausgearbeitet wurde, befanden wir uns auch mitten in einer Pandemie. Es war die Zeit der Spanischen Grippe und wäre also nicht unverständlich gewesen, in die Verfassung Notstandsparagraphen einzufügen. Das geschah aber nicht. Viel eher setzten die Architekten der Bundesverfassung, allen voran Hans Kelsen als maßgeblicher Legist, auf ein stabiles Gerüst an funktionstüchtigen Institutionen, die miteinander arbeiten und einander kontrollieren. Die Verfassung verpflichtet diese Institutionen und ihre politischen Verantwortungsträger*innen, auch in schwierigen Zeiten die Spielregeln von Demokratie und Rechtstaat einzuhalten.

Daran wurden wir 2020 durch achtsame Bürger*innen und besonders deutlich durch den Verfassungsgerichtshof erinnert. In einer Demokratie kennt auch die Not ein Gebot, nämlich jenes der Verfassung. Wir benötigen weder ein autoritäres Notstandsrecht noch gesetzwidrige Verordnungen oder Desinformation als Herrschaftsmittel , denn eine rechtstaatliche Demokratie kann auch gegen eine Pandemie Lösungen finden. Das heute im Absatz 3 des Artikels 18 B-VG verankerte Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten wurde erst 1929/30 hinzugefügt – von einem laut Kelsen „then already Fascist Government“, wie er aus dem US-amerikanischen Exil schrieb.

Hans Kelsen war nicht nur aufmerksamer Beobachter der Ersten Republik, sondern hatte aktiv an ihrer Entstehung und Entwicklung mitgewirkt, zum Beispiel als langjähriges Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, den er konzipiert hatte und fortan als sein „persönlichstes Werk“ bezeichnete. Bekannt ist Kelsen aber vorrangig als „Vater der Verfassung“: Karl Renner, der im Mai 1919 als Leiter der österreichischen Delegation zu den Friedensverhandlungen nach St. Germain fuhr, hatte Kelsen vor seiner Abreise den Auftrag erteilt, „im Verein mit der Verfassungsabteilung der Staatskanzlei den Entwurf einer Bundesstaatsverfassung auszuarbeiten.“ Anfang Juli war der erste Entwurf fertig. Doch noch im Laufe des Sommers hatte Kelsen weitere Entwürfe zu schreiben, um dem Fortgang der Verhandlungen in St. Germain gerecht zu werden. Nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags mit den Ententemächten des Ersten Weltkriegs am 10. September 1919, der endlich Klarheit über die völkerrechtliche Situation Österreichs gebracht hatte, dauerte die finale Ausarbeitung der Verfassung noch ein weiteres Jahr.

Aus heutiger Sicht bemerkenswert ist, dass die Parteien sich trotz Regierungskrise und Aufkündigung der Koalition im Juni 1920 darauf einigen konnten, über den Sommer – also während eines Nationalratswahlkampfes – die Verfassung vollenden zu wollen. Schwierig gestalteten sich vor allem die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sowie die Beratung über die Grundrechte. Schließlich wurde die Entscheidung über die Kompetenzverteilung mit der österreichischen Lösung eines Übergangsgesetzes verschoben und auf einen neuen Grundrechtekatalog verzichtet. Während man die Kompetenzverteilung mit der Verfassungsnovelle 1925 erledigte, beließ man hinsichtlich der Grundrechte das alte Staatsgrundgesetz von 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger in Kraft.

Dieses Provisorium besteht bis heute und wurde später unter anderem durch den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergänzt. Das führte aber auch dazu, dass unsere Grundrechte äußerst disloziert sind und wir Bürger*innen keinen kompakten Überblick haben. Erst der Rechtswissenschafter Konrad Lachmayer machte sich vor wenigen Tagen die Mühe, eine Website namens „Grundrechteaufzusetzen und eine Liste unserer Grundrechte sowie detaillierte, aber allgemein verständliche Informationen über sie online zu stellen.

Hans Kelsen hatte bei den Arbeiten zum B-VG kein politisches Mandat, sondern war parteiunabhängiger juristischer Berater. Doch war er seit Studienzeiten mit dem Austromarxisten Otto Bauer und anderen Sozialdemokraten befreundet und besaß als Rechtsprofessor der Universität Wien im parlamentarischen Verfassungsausschuss eine besondere Vertrauensstellung. Seine Vorstellungen von Demokratie, die er damals in seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ darlegte, trafen sich in vielen, wenn auch nicht in allen Punkten mit den politischen Prinzipien der Sozialdemokratie. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte sich bei der Verfassung von 1920 weitgehend durchgesetzt. Erst die große Verfassungsnovelle von 1929 – die seit 1945 wieder und bis heute in Kraft ist – verwirklichte die bisweilen autoritären Vorstellungen des bürgerlichen Lagers.

Obwohl die Verfassung im Jahr 1929 eine große Änderung erfahren hatte und seither stetig weiterentwickelt wurde, blieb an Kelsen das Etikett „Vater der Verfassung“ hängen. Denn er hatte ihre Entstehung 1919/20 wie kein anderer in allen Stadien begleitet. Der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer, der mit Kelsen befreundet gewesen war, erzählt, dass man Kelsen nahelegt habe, an seiner Wohnung ein Türschild mit der Aufschrift „Verfassungsmacher“ zu montieren.

Die Ausstellung Hans Kelsen und die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung ist von 1. Oktober 2020 bis 5. April 2021 im Jüdischen Museum Wien zu sehen. Alles, was es über Hans Kelsen zu wissen gibt, hat Thomas Olechowski und sein Team für das Buch Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers zusammengetragen.

Tamara Ehs ist Wissensarbeiterin für Demokratie und politische Bildung. Dabei berät sie auch Städte und Gemeinden in partizipativen und konsultativen Prozessen. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des österreichischen Parlaments. Soeben ist ihr neuestes Buch „Krisendemokratie“ (Wien: Mandelbaum Verlag 2020) erschienen.

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Titelbild: Pexels auf Pixabay/Unsere Zeitung

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