Wir leisten Widerstand!

lowerclassmagazine_hinter_den_barrikadenLower Class Magazine: „Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg“ – Berichte über den Kampf gegen Staatsgewalt und Belagerung, über praktische Solidarität und alltägliches Leben in den kurdischen Gebieten. – Sonntag ist Büchertag

Von Evrim Muştu / kritisch-lesen.de

„Eine Reise durchs wilde, gefährliche und romantische Kurdistan…“, so tönt es in einem Teaser zum fast gleichnamigen Roman von Karl May, der sich bei der deutschsprachigen Leserschaft großer Beliebtheit erfreute. Beim vorliegenden Buch handelt es sich zwar ebenfalls um eine solche Reise, jedoch „durch Nordkurdistan im Krieg“. Die von den Journalist*innen des linken Lower Class Magazine zusammengetragenen Reportagen und Analysen haben den May’schen Epen aber einiges voraus: Die vermeintlichen Wesensmerkmale Kurdistans – wild, gefährlich und romantisch – kehren zwar wieder, aber eben nicht in einer mystifizierenden, sondern, ganz im Gegenteil, in einer entmystifizierenden Form.

Eine große Stärke des Buches ist etwas, das als klassische Ideologiekritik bezeichnet werden könnte. Es stellt den Versuch dar, das Missverhältnis zwischen den Tatsachen des Krieges in Kurdistan und dessen medialer Darstellung als Krieg gegen organisierte Terroristen aufzuheben und stattdessen eine den Tatsachen angemessenere Beschreibung anzubieten. Es erteilt der Tradition der Mythenerzählung über das Zweistromland eine Absage und tritt nicht in die Falle des Orientalismus, der Exotisierung „des Orients“. Vor dem Hintergrund der „Flüchtlingskrise“ und der von Deutschland entscheidend bestimmten „Flüchtlingspolitik“ sowie mit Blick auf die herrschenden Erzählungen über den Mittleren Osten, auf die sich die Angst weiter Teile der europäischen Bevölkerung bezieht, kommt ein Buch wie dieses gerade richtig. Im Grunde ist es in einem weiteren Sinne klassisch, nämlich aufklärerisch: Der Anspruch der Autor*innen, an dem sie gemessen werden könnten, ist der, „einen bescheidenen Beitrag dazu [zu] leisten, Informationen aus dem Kriegsgebiet deutschsprachigen Leser*innen zugänglich zu machen“ (S. 8).

Die Geziproteste als Wendepunkt

Vor allem der im letzten Jahr erneut entflammte Konflikt zwischen der kurdischen Widerstands- und Befreiungsbewegung und dem türkischen Staat ist Gegenstand des Buches. Er manifestierte sich in Form der Belagerung der kurdischen Gebiete durch das Militär und den entsprechend heftigen, bewaffneten Auseinandersetzungen und ihren Folgen. Um die Dynamik zu verstehen, die den Weg für diesen Konflikt ebnete, setzen die Autor*innen an den Gezi-Protesten Mitte 2013 an. Sie attestieren der zu diesem Zeitpunkt – und bis jetzt – alleine herrschenden Partei der Gerechtigkeit und des Aufschwungs (AKP) und ihrem Führer Recep Tayyip Erdoğan den relativen Verlust der unangefochtenen politischen Führungs- und Handlungsfähigkeit, also eine Krise der Hegemonie. Das Verhalten der Regierung wurde von Menschen unterschiedlichster politischer und sozialer Hintergründe nicht mehr einfach hingenommen, sondern durch gemeinsame Aktion und Initiative auf der Straße hinterfragt. „Die wohl bedeutendste Veränderung lässt sich beschreiben als Entstehung eines aufständischen Geistes, der die Leute seit Gezi beseelt“ (S. 12) – der sogenannte „Gezi Spirit“. Die rabiate Antwort der Regierung und der Polizei drängte die Leute zur Selbstverteidigung und erzeugte somit neue Anknüpfungspunkte zwischen ihnen und dem kurdischen Widerstand, der mit der Repression des türkischen Staates schon lange vertraut war. So kam es auch, dass sich die Aufmerksamkeit dieses „aufständischen Geistes“, womit nichts anderes als ein bestimmtes Bewusstsein über die Herrschaftsverhältnisse gemeint ist, auch nach Syrien ausrichtete, als es Ende 2014 darum ging, die Selbstverwaltungsstrukturen der Kurd*innen in Kobanê zu verteidigen.

Als letzte Etappe auf dem Weg zum Konflikt wird von Autor Alp Kayserilioğlu die Phase der (aktiven) Destabilisierung der kurdischen Gebiete benannt, die als Reaktion auf den relativ unerwarteten, aber bahnbrechenden Wahlerfolg der pro-kurdischen und linken Halkların Demokratik Partisi (HDP) am 7. Juni 2015 erfolgte. Die AKP sah sich aufgrund der Wahlergebnisse gezwungen, ihre Alleinherrschaft aufzugeben und eine Koalitionsregierung einzugehen – was sie, trotz einiger abweichender Stimmen aus der Partei, in Wirklichkeit nie vorhatte. Sie zog es vor, einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung vom Zaun zu brechen und jedwede Koalitionsverhandlungen zu sabotieren. Um die verlorenen Wahlen zu korrigieren, lancierte sie gleichzeitig einen starken Sicherheitsdiskurs: Sie gab sich Mühe, Angst und Schrecken zu verbreiten, während sie sich gleichzeitig als einzig mögliche Retterin inszenierte. Sogar Terroranschläge wie auf die Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober 2015, bei dem mehr als 100 Menschen ihr Leben verloren, ließ sie geschehen. Diese Tragödie wurde von den Autor*innen miterlebt und findet ihren Ausdruck in Form eines unzensierten Erfahrungsberichtes, der aber als weit mehr als das gelesen werden kann.

Reisen hinter die Barrikaden und Beobachtungen des Widerstandes

Der Teil über Nordkurdistan ist das Herzstück des Buches und erstreckt sich auf fast 100 Seiten. In einer Vielzahl von Interviews, Reportagen und Reiseberichten – angereichert mit Fotos von verschiedenen Städten im Südosten der Türkei, wie Cizre, Diyarbakır oder Nusaybin – beschreiben die Autor*innen die grausame Wirklichkeit der Dynamik der Eskalation. Der Kampf ums Überleben wird aus den Blickwinkeln unterschiedlicher Menschen dargestellt: Man hört die Stimmen von Aktivist*innen, Zivilist*innen, Widerstandskämpfer*innen, Journalist*innen, Rechtsanwält*innen, Flüchtenden und Opfern, ja sogar von Polizist*innen der Spezialeinheiten, denen die Autor*innen bei ihrem Kampf gegen den „Aufstand der Terroristen“ des Öfteren über den Weg liefen.

Dabei ist der Grundton oft derselbe: Die Menschen versuchen, sich gegen die Willkür des Staates zu wehren, die in Gestalt der Sondereinheiten der Polizei und des Militärs auftritt. Diesen kommt in der Wahrnehmung der Lokalbevölkerung eine wichtige Rolle zu, wie man beispielsweise dem Interview mit dem Anwalt Tamer Doğan entnehmen kann. Aus Cizre berichtet er: „Die Bewohner*innen hier erzählen, dass ein großer Teil der hier eingesetzten Konterguerilla arabisch gesprochen habe, älter war und manche von ihnen Bärte trugen“ (S. 78). Die Vermutung der Menschen dort: Unter den geschätzten 5.000 Spezialeinheiten sind viele Ex-Mitglieder islamistischer Banden, die auch in Syrien gekämpft haben und nun in der Besatzung der kurdischen Stadtteile involviert sind.

„Besatzung“ bedeutet vor allen Dingen Ausgangssperren, die in den Kriegsgebieten herrschen. Die Autor*innen des Buches lassen Abdulkerim Pusat, einen Vertreter des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD), zu Wort kommen. Er erzählt über die sechste, 79 Tage andauernde Ausgangssperre in Cizre:

„Die Ausgangssperre ist seit dem 14. Dezember über ganz Cizre verhängt worden […]. Grundlegende Rechte wie das Recht auf Leben, Kommunikation, Gesundheit, freien Verkehr sowie Zugang zu Wasser und Strom sind massiv beschränkt worden bis nicht mehr vorhanden“ (S. 85).

Durch die Zerstörung der Infrastruktur findet eine kollektive Bestrafung der Bevölkerung statt, die zusätzlichen Druck aufbauen und den Widerstand der meist jugendlichen Kämpfer*innen brechen soll. Die bittere Folge dieses Vorgehens ist, dass Morde an Zivilist*innen und die Schikane von Unbeteiligten zur alltäglichen Realität werden. Diese traumatischen Erfahrungen der Menschen sind womöglich ein Grund für die krassen Entfremdungserscheinungen zwischen der Bevölkerung und dem Staat, die in den Berichten immer wieder zutage treten. Dem Staat wird alles außer dem Willen zum Frieden zugetraut.

Eine der Leistungen des Buches ist, dass man als Leser*in eine konkrete Idee davon bekommt, in welcher Form die Menschen vor Ort organisiert sind und wie die „demokratische Autonomie“ praktisch aussieht. Dabei kann man klar zwischen den Gedanken und Gefühlen der Betroffenen vor Ort und jenen der Autor*innen unterscheiden. Die Strukturen, in welchen sich der Widerstand realisiert, werden eingehend beschrieben. Welche Verbindungen haben die Organisationen untereinander, wie beziehen sie sich aufeinander und welche Positionen vertreten sie? Antworten auf diese Fragen bekommt man von den „Terrorist*innen“ selbst: Der Kampf erlaubt kein individualistisches Leben; vielmehr braucht es eines, das am treffendsten als kommunal oder kollektiv beschrieben werden kann. Vieles wird – und kann – nur gemeinsam erledigt werden.

Starke moralische Haltung

Die Überzeugung der Menschen vor Ort ist unmissverständlich: „Wir leisten Widerstand!“ Sie wird begleitet durch jene der Autor*innen, die da ist: „Wir werden nicht schweigen!“ Die Ausweglosigkeit zwingt die örtliche Bevölkerung in eine wütende, widerspenstige, aber dennoch stolze und mutige Haltung gegenüber den Geschehnissen. Die Alternativlosigkeit auf Seiten der Journalist*innen rührt daher, dass sie sonst wohl nicht mehr in den Spiegel schauen könnten. Sie empfinden es als ihre Pflicht, ihrer Leser*innenschaft ein möglichst vollständiges Bild der Lage zu ermöglichen. Die Taktik, die sie dabei verfolgen, könnte als „Wachrütteln“ beschrieben werden. Insofern ist das Buch als ein explizit politisches zu verstehen. Dieser Umstand wird von den Autor*innen selber nochmals in einem Extrakapitel zu der Pressefreiheit in der Türkei behandelt.

Als ideologiekritisch, wie eingangs bezeichnet, kann das Buch deshalb gelten, weil es sowohl das Bild, das in den türkischen Massenmedien von der Widerstandsbewegung und dem Konflikt gemalt wird, als auch jenes, das in den westlichen Medien über „die Kurden“ vorherrscht, auf glaubhafte Weise unterminiert. Es benötigt viel mehr solcher Publikationen!

Mit der Wiederkehr der vermeintlichen Wesensmerkmale Kurdistans ist letztlich Folgendes gemeint: Das, was Kurdistan in dieser Reise wild und gefährlich machte, waren nicht die Kurd*innen selbst, sondern die Willkür und der Terror des Staates. Es bleibt das romantische Kurdistan, das sich in einigen Geschichten trotz der traurigen Umstände hält, wenn man darunter eine das Gemüt ansprechende Stimmung versteht. Man könnte es als Ausdruck einer Hoffnung deuten, neben dem Wahren auch noch das Gute und Schöne des heutigen Kurdistan sehen zu wollen. Am deutlichsten wird das in den „Sechs kurzen Geschichten aus dem Krieg in Kurdistan“ (S. 116) und auch im „Das Las Vegas von Şırnak oder: Bohémiens an der Front“ (S. 111).

Lower Class Magazine:
Hinter den Barrikaden. Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg.
Edition Assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-96042-012-5.
184 Seiten. 13,80 Euro.

Der Beitrag erschien zuerst am 4. Oktober bei unserem Kooperationspartner kritisch-lesen.de unter der Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz.

Buchcover: Edition Assemblage ; Titelbild: Kurdish YPG Fighter (Kurdishstruggle / flickr.com ; Lizenz: CC BY 2.0)

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