Buchrezension von Maximilian Belschner/Max Aurel (Sonntag ist Büchertag)
Yanis Varoufakis war für einen Sommer lang das Enfant Terrible der europäischen Politik. Kaum ein Finanzminister eines Landes sorgte für mehr Schlagzeilen, vor allem durch sein unorthodoxes Auftreten und die von Jan Böhmermann inszenierte „VarouFake“-Story, bei der Böhmermann Varoufakis einen falschen Stinkefinger auf die Hand retuschierte. Seit seinem Rücktritt als Finanzminister ist es um ihn ruhiger geworden, er tritt regelmäßig auf Konferenzen auf, gründete mit DiEM 25 eine pro-europäische Bewegung und ist als Autor sehr aktiv. In seinem Buch „And The Weak Suffer What They Must?“ (Zu Deutsch: Und die Armen erleiden, was sie müssen?) präsentiert er eine Abrechnung mit den EU-Technokraten, der Geldpolitik der EZB, der FED und Deutschen Bundesbank und wie sich diese Politik auf die südeuropäischen Staaten ausgewirkt hat.
Eine kleine Geschichte der Geldpolitik
Varoufakis versteht es, dass er die aktuelle Situation der Europäischen Schulden- und Finanzkrise nicht erklären kann, ohne sie in einen Kontext zu stellen. Varoufakis erstellt diesen Kontext durch eine Geschichte der Geldpolitik der USA und Kontinentaleuropas. Zwei wichtige Jahreszahlen sind hierbei 1944 und 1971. 1944 fanden die Bretton-Woods Verhandlungen statt, bei denen unter anderem die Weltbank und der IWF gegründet wurden. Außerdem wurde eine Abkehr vom Goldstandard vereinbart, einem geldpolitischen Instrument, welches für große Probleme während der Weltwirtschaftskrise führte. Die Verhandler waren sich damals bewusst, dass sie irgendetwas brauchen, das dem globalen Geldsystem Stabilität verleiht. Früher war das das Gold, nach 1948 der US-Dollar. Andere Währungen hatten einen festen Wechselkurs zum US-Dollar, welcher selbst noch die Goldreserven der FED und einen fixen Umtauschpreis zu Gold gebunden war. Doch der Dollar konnte seine Stabilität nur wahren, wenn die USA einen Außenhandelsüberschuss erzielten.
Dem Jahr 1971 verleiht Varoufakis besondere Signifikanz. Es war das Jahr des Nixon-Schocks, eines geldpolitischen Ereignisses, bei dem Präsident Nixon das Ende der festen Wechselkurse verkündete. Hintergrund war ein chronisch Außenhandelsdefizit der USA und der Vietnamkrieg, welches „durch die Notenpresse“ finanziert wurde. Das sorgte dafür, dass es ein Überangebot an Dollars gab, der Goldpreis hingegen stieg stetig weiter, höher als der fixierte Umtauschpreis. Um das System aufrechtzuerhalten, hätten die anderen Staaten massiv US-Dollar kaufen müssen, wozu sie nicht willens und in der Lage waren. Die USA tüftelten einen Plan aus, um auch als „Defizit Nation“ die Hegemonie zu behalten. Das geschah durch die Deregulierung der Wall Street, welche als Magnet für ausländisches Kapital dienen sollte. Gleichzeitig wurden flexible Wechselkurse eingeführt. Der moderne Finanzkapitalismus war geboren, und Europa hatte, laut Varoufakis, keine Ahnung, wie es mit dieser neuen US-Strategie umgehen solle.
Die perverse Rechtfertigung der Austerität
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Es war nicht nur das globale Geldsystem, welches im Ungleichgewicht damals war, sondern auch das europäische. In Europa gibt es sogenannte „Defizit-“ und „Überschussnationen“. Defizitnationen haben, wie die USA, eine Außenhandelsdefizit, Überschussnationen einen Außenhandelsüberschuss. Zu den Defizitnationen gehörten in der Vergangenheit (und auch heute) Frankreich, Italien und die meisten anderen südeuropäischen Ländern, zu den Überschussnationen vor allem Deutschland, die Niederlande und die zentral- und nordeuropäischen Staaten. Das daraus resultierende Problem war, dass die Defizitnationen sich immer weiter verschulden mussten, um für die Importe aus den Überschussnationen zu bezahlen. Solange die USA ihr Defizit aufrecht erhielten und die Wall Street für den Kapitalausgleich sorgte, konnte dieses europäische System auch mit einer gemeinsamen Währung funktionieren. Doch bei einer Finanzkrise würde es zu chaotischen Zuständen in Europa kommen, was dann auch geschah.
Die größte Angst der EU-Bürokraten und politischen Anführer der Überschussnationen war ein Kollaps Frankreichs oder Italiens. Varoufakis führte viele Gespräche mit hochrangigen Bürokraten und Entscheidern auf EU-Ebene, die ihm den Grund für die Austeritätsmaßnahmen nannten. Austerität ist ein Sammelbegriff für Politiken, die eine Reduzierung der Schuldenlast vorsehen. Dazu gehören Entlassungen von Staatsangestellten, Privatisierungen, Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen. Unter Ökonomen setzte sich schnell die Weisheit durch, dass diese Reformen kontraproduktiv sind. Und auch den EU- Offiziellen war dies bewusst. Sie wurden dennoch in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien implementiert, um Signale an Italien und Frankreich zu senden: „Setzt unsere strukturellen Anpassungsprogramme um oder es ergeht euch wie den „PIGS“ Staaten!“
Die Lösung
Alles in allem zeichnet Varoufakis ein sehr düsteres Bild vom europäischen Kontinent. In seinem abschließenden Statement schreibt er, dass „Europas religiöse Hingabe zu Regeln nichts ist als ein Schleier, hinter dem der Starke die Regeln erstellt, die zu seiner politischen Agenda passen.“ Varoufakis selbst ist allerdings der Überzeugung, dass gemeinsame Regeln für einen gemeinsamen Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung unerlässlich sind. Es kommt nur darauf an, welche Regeln es sind. Deshalb präsentieren er und sein Ökonomenkollege J.K. Galbraith einen „bescheidenen Vorschlag“ zur Reparatur der Europäischen Union und der Eurozone. Sie erkannten vier Kernprobleme der Eurozone, die sie mit folgenden Vorschlägen lösen wollen:
Politik Eins: Anstelle von nationalen Regierungen, die für die einheimischen Banken Geld aus dem ESM abzweigen, sollen sich die Banken direkt an den ESM wenden können, wo von Fall zu Fall entschieden wird. Der ESM würde auch die Rekapitalisierung und Restrukturierung der Bank unternehmen.
Politik Zwei: Schuldenumwandlung. Die meisten europäischen Staaten überschreiten das 60 Prozent Maastricht Kriterium der Staatsverschuldung. Der EZB ist eine direkte Staatsfinanzierung nicht erlaubt, weshalb sie als Mediator zwischen Investoren und Regierungen agieren könnte.
Politik Drei: Europäische Investitionsbank (EIB) und Europäischer Investmentfond (EIF) werden Teil eines europaweiten Investitionsprogrammes. EIB und EIF veräußern Anleihen, die dann von der EZB im Zuge des Quantitative Easing Programmes gekauft werden. Auf diese Art und Weise steht genug Geld zur Verfügung für Infrastrukturinvestitionen (durchgeführt von der EIB) und Investitionen in Start Ups, Digitalisierung und Grüne Technologie (EIF).
Politik Vier: Ein akutes Hilfsprogramm zur Befriedigung von Hunger und der grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse. Die relativen Armutsraten in der gesamten EU sind am steigen und immer mehr Menschen in Europa müssen Hunger leiden. Um dieses Problem zu lösen, soll Soforthilfe durch den TARGET2 Mechanismus frei werden. TARGET2 ist die Bezeichnung für die buchhalterische Praxis zwischen den europäischen Zentralbanken. In der Theorie sorgt ein Handelsbilanzdefizit für einen Zustrom von Kapital in das jeweilige Land. In diesen Equilibrium Zuständen sind die TARGET2 Salden von Staaten nahezu ausgeglichen. Das änderte sich nach der Eurokrise schlagartig, wie die Grafik unten zeigt. Varoufakis Vorschlag lautet daher, einen Prozentsatz der positiven TARGET2 Salden für das Soforthilfeprogramm zu verwenden.
Der „bescheidene Vorschlag“ enthält wohl durchdachte Politiken, die einige der wichtigsten Probleme der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik lösen sollen. Varoufakis arbeitet die Geschichte der Euro-Entstehung und des globalen Geldsystems anschaulich auf. Jeder, der sich für Wirtschaftspolitik interessiert und die Zukunft der Europäischen Union in Gefahr sieht, sollte sich dieses Buch zulegen.
Yanis Varoufakis
And the Weak Suffer What They Must?: Europe’s Crisis and America’s Economic Future
Nation Books, April 2016
ISBN: 9781568585048
Cover: www.yanisvaroufakis.eu; Titelbild: 100.000 Menschen protestieren in Athen gegen die Sparmaßnahmen ihrer Regierung, 29. Mai 2011 (Kotsolis at English Wikipedia; Lizenz: CC BY-SA 3.0)
Sonntag ist Büchertag:
Bisher:
- „Kinder der Tage“ (Eduardo Galeano)
- „Familie Salzmann“ (Erich Hackl)
- „Deutsche Demokratische Rechnung. Eine Liebeserzählung“ (Dietmar Dath)
- Über Kurt Tucholsky
- „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ (Richard David Precht)
- „Der Aufstand des Gewissens“ (Jean Ziegler)
- „Superhenne Hanna“ (Felix Mitterer)
- „Die Diktatur des Kapitals“ (Hannes Hofbauer)
- „Die schützende Hand“ (Wolfgang Schorlau)
- „Hitler war kein Betriebsunfall“ (Emil Carlebach)
- „Heldenplatz“ (Thomas Bernhard)
- „Zwölfeläuten“ (Heinz R. Unger)
- „MARX“ – Graphic Novel (Corinne Maier, Anne Simon)
- „Gefährliche Bürger“ (Christoph Giesa und Liane Bednarz)
- „Ändere die Welt. Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ (Jean Ziegler)
- „Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee“ (Dietmar Dath & Barbara Kirchner)
- Die Viertel der Reichen (Louis Aragon)
- „Wie Italien an die Räuber fiel“ (Gerhard Feldbauer)
- „berlin. bleierne stadt“ (Jason Lutes)
- „Das war Österreich“ (Robert Menasse)
- „Narr“ von Schilddorfer & Weiss
- „Fußball. Eine Kulturgeschichte“ (Klaus Zeyringer)
- „Reisen in das Land der Kriege“ (Kurt Köpruner)
- „The magic Pen – Der Zauberstift“ (Kathrin Steinbacher)
- „Rückkehr nach Reims“ (Didier Eribon)
- ISLAMISCHER STAAT & Co. (Werner Ruf)
- „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers (Stefan Zweig)
- Freud und das Politische (Moshe Zuckermann)
- „LONDON. Unterwegs in einer umkämpften Metropole“ (Peter Stäuber)
- „Der Tote im Bunker“ (Martin Polack)
- „Antonia war schon mal da“ (Patrick Wirbeleit)
- „Hinter den Barrikaden – Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg“ (Lower Class Magazine)
- „Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht“ (Peter Nowak)
- „Die Wut wächst“ (Oskar Lafontaine)
- „Postkapitalismus“ (Paul Mason)
- Proleten, Pöbel, Parasiten (Christian Baron)
- „Jenseits von 1984″ (Sandro Gaycken)
- „Erinnerungen aus dem Widerstand“ (Margarete Schütte-Lihotzky)
- CETA – Lesen und verstehen. (Analyse des EU-Kanada-Freihandelsabkommens)
- Die globale Überwachung (Glenn Greenwald)
- „Die Wörter fliegen“ (Jutta Treiber)
- „erfasst, verfolgt, vernichtet“ (Ausstellungskatalog)
- „Verwirrung der Gefühle“ (Stefan Zweig)
- „Kalendergeschichten“ (Bertolt Brecht)
- „Kryptozän“ (Pola Oloixarac)
- „Die Europäische Union“ (Andreas Wehr)
- „Ich war Zwangsarbeiterin bei Salamander“ (Vera Friedländer)
- „Emotionale Erpressung – Wenn andere mit Gefühlen drohen.“ (Susan Forward)
- „Generation Erdoğan. Die Türkei – ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert.“ (Çiğdem Akyol)
- „Thomas Sankara – Die Ideen sterben nicht!“ (AfricAvenir)
- „Zarah und Zottel. Ein Pony auf vier Pfoten“ (Jan Birck)
- „Erwachen – In einer andern Welt“ (Andreas Kollross)
- „Erdmännchen Gustav – Kunstraub im Museum“ (Ingo Siegner)
- „Out Demons Out“ (Walter Kohl)
- „Mathematik für Sonntagmorgen“ (George Szpiro)
- Kleiner Dreckspatz Aurelia – Wasch dich doch mal! (Dorothea Flechsig)
- „46 Fragen zur nachkapitalistischen Zukunft“ (Meinhard Creydt)
- „Willkommen in Österreich“ (Ferry Maier/Julia Ortner)
- „Ein Jude in Neukölln. Mein Weg zum Miteinander der Religionen“ (Ármin Langer)
- „Eddy, der Elefant, der lieber klein bleiben wollte“ (Hans Traxler)
- „Populismus für Anfänger – Anleitung zur Volksverführung“ (Walter Ötsch, Nina Horaczek)