Auch wenn der Kern unserer Verfassung 100 Jahre alt ist, so erfuhr das B-VG doch bereits 1929 eine erste tief ins demokratische Gefüge eingreifende Umgestaltung. Sie betraf vor allem den Parlamentarismus. Hätten wir heute auch inhaltlich eine „Kelsen-Verfassung“, würde diese ziemlich anders aussehen.
von Tamara Ehs
Als die neue Verfassung im Herbst 1920 in Kraft trat, gab es darin keinen vom Volk zu wählenden Bundespräsidenten, keine Notstandsbefugnisse; ja selbst auf die Möglichkeit, Grundrechte in Ausnahmesituationen zeitweilig oder örtlich einzuschränken, wurde verzichtet. Das Herz der Republik war das Parlament. Man vertraute auch in schwierigen Zeiten auf seine Funktionsfähigkeit und vor allem auf den Kompromisswillen der Parteien. Außerdem tagte der Nationalrat in Permanenz, denn parlamentslose Zeiten dürfe es in einer Demokratie nicht geben, so Hans Kelsen.
Auch wenn Kelsen im Rahmen der Arbeit am B-VG als Rechtstechniker auftrat und nur die Kompromisse der Parteien in ein rechtliches Gewand kleidete, ohne selbst demokratiepolitische Ansichten einzufügen, kennen wir doch seine persönliche Haltung zur Demokratie. Sie legt insbesondere die ebenfalls 1920 veröffentlichte Schrift Vom Wesen und Wert der Demokratie dar. Kelsen hatte bereits im November 1919 vor der Wiener Juristischen Gesellschaft einen gleichnamigen Vortrag gehalten und vertrat dabei eine Demokratietheorie, in deren Mittelpunkt das Parlament stand.
Um das Aufeinandertreffen der politischen Gegensätze zu rationalisieren und einen allgemeingültigen Kompromiss zwischen den verschiedensten Meinungen zu erzielen, ist der moderne Staat „notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat“, so Kelsen. „Denn die moderne Demokratie ist eine parlamentarische und der Parlamentarismus scheint mir, wenigstens nach den bisherigen Erfahrungen, die einzig mögliche Form zu sein, in der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute realisierbar ist.“ Dementsprechend wies das B-VG 1920 bis zur Novellierung 1929 eine radikalparlamentarische Prägung auf. Kelsen bezeichnete Österreich als „den extremen Typus einer parlamentarischen Republik.“
Da für Kelsen die Entscheidung für oder wider Parlamentarismus zugleich die Entscheidung über die Demokratie darstellte, lehnte er ein präsidiales Regierungssystem ab. In einem – noch dazu direkte vom Volk gewählten – Bundespräsidenten sah er den Rest der Ideologie der konstitutionellen Monarchie, einen Ersatzkaiser: „Von einem streng demokratischen Standpunkt aus ist für ein solches Organ überhaupt kein Platz, ja die Vorstellung einer von einem Einzelmenschen dargestellten Spitze des Staates im Widerspruch zur Idee der Volksherrschaft.“ Das Präsidialamt war im B-VG 1920 bloß auf repräsentative Funktionen beschränkt, der Präsident außerdem nicht vom Volk direkt gewählt. Erst die Novelle von 1929 stärkte das Amt und bedingte eine Machtverschiebung vom Nationalrat zum Bundespräsidenten.
Das im B-VG 1920 verwirklichte Zweikammernsystem – also Nationalrat neben Bundesrat – stand Kelsens Demokratiekonzept entgegen, weil „(d)em demokratischen Gedanken entspricht, daß das Organ der Gesetzgebung nur aus einer einzigen Kammer besteht. […] In der demokratischen Republik läuft das Zweikammernsystem darauf hinaus, daß das demokratische Prinzip, das in der Organisation der einen Kammer zum Ausdruck kommt, in höchst inkonsequenter Weise bei der Zusammensetzung der anderen Kammer abgeschwächt wird.“ Kelsen erkannte in der zweiten Kammer einen Anachronismus, gestaltet nach dem Vorbild konstitutioneller Monarchien und hätte für die Verfassung einen dezentralen Einheitsstaat präferiert, wie ihn die Nationalversammlung auch ursprünglich im Sinn gehabt hatte.
Tamara Ehs ist Wissensarbeiterin für Demokratie und politische Bildung. Dabei berät sie auch Städte und Gemeinden in partizipativen und konsultativen Prozessen. Sie ist Trägerin des Wissenschaftspreises des österreichischen Parlaments. Soeben ist ihr neuestes Buch „Krisendemokratie“ (Wien: Mandelbaum Verlag 2020) erschienen.
Titelbild: © Parlamentsdirektion / Johannes Zinner